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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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    Jeanne ging durch den Garten. Weiches Gras, riesige Blumen. Palmen mit grauen Stämmen und rissiger Borke. Ihr Fuß berührte etwas Hartes. Ein zwischen Büschen versteckter Fliesenboden. Erste Veranda. Ein Springbrunnen in der Mitte. Ein Ventilator drehte sich an der Decke und wälzte die warme Luft um. Ein Fernseher surrte in einer Ecke, der Ton abgedreht – die Quelle des schwachen Lichtscheins, der ihr vorhin aufgefallen war. Der eingeschaltete Apparat deutete auf einen überstürzten Aufbruch hin. Und weit und breit keine Hausangestellten. Eine dunkle Vorahnung befiel sie: Was war hier passiert?
    Sie gelangte in ein Wohnzimmer – eine Art Verlängerung der Terrasse. Alles stand offen. Manzarena fürchtete sich eindeutig nicht vor Dieben. In dem Moment, als sie das Zimmer betrat, gingen die Straßenlaternen an. Sie fuhr zusammen und machte einen Satz nach rechts, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Nachdem sie bis zehn gezählt hatte, riskierte sie einen Blick nach draußen. Auf der Avenida war niemand. Sie sah sich abermals im Wohnzimmer um. Das Licht der Laternen fiel durch die schmiedeeisernen Gitter, durch Mauerschlitze, aufgestellte Jalousien und warf schräge Schatten ins Innere.
    Sie ging weiter. Hier wehte kein Lüftchen. Ihr war, als durchquerte sie ein langsam fließendes Gewässer, dessen Druck auf ihren Schultern lastete. Die Einrichtung. Sessel, die sich träge im Halbdunkel duckten, ein langer Tisch mit einem Wachstuch. Eine Bar mit aufgereihten Flaschen. Die Augen einer Maske aus gebranntem Ton beobachteten sie aus der Tiefe eines Regals. Ein stechender Geruch nach Chlorreiniger stieg vom Boden auf. Das Personal schien hier ein Kommandounternehmen durchgeführt zu haben, bevor es sich in Luft aufgelöst hatte. Warum hatten sie alles offen gelassen?
    Eine Treppe. Der Form halber rief Jeanne: »Señor Manzarena?« Aber die Antwort war nur Schweigen, skandiert vom Geräusch des Ventilators auf der Veranda. Sie stieg die Treppe hinauf. Erster Stock. Ein Gang. Zimmer. Meergrün und grellorange gestrichene Betonwände. Holzbetten. Rattanmöbel. Durch Jalousien an den Fenstern fiel in hellen Streifen das Licht der Straßenlaternen.
    Jeanne ging weiter. Im nächsten Moment hatte sie begriffen. Wegen des Geruchs, der im Raum schwebte – intensiv, süßlich, ekelerregend, halb wie von faulen Früchten, halb wie von Fleisch mit Hautgout. Am Ende des Gangs lag eine weitere Tür. Als Jeanne sie einen Spalt breit öffnete, wusste sie noch im selben Moment, dass sie das Geheimnis gelüftet hatte.
    Eduardo Manzarena war hinter seinem Schreibtisch zusammengesackt; sein Kopf lag auf dem Tisch, unter dem Gitter der sirrenden Klimaanlage. Sein Schädel glich einer gespaltenen Wassermelone, aus der sich Gehirnmasse auf die lederne Schreibunterlage ergoss. Eine Wolke von Mücken schwirrte darüber.
    Joachim war ihr zuvorgekommen.
    Durch den Mund atmend, machte Jeanne zwei Schritte ins Innere, durchwühlte ihre Tasche, fand zwischen Lippenstift und Kaugummi Latexhandschuhe, die sie immer bei sich trug. Sie streifte sie über und betrachtete eingehend den Tatort, der nur durch das Licht der Straßenlaternen beleuchtet wurde. Ihr fielen gleichzeitig mehrere Dinge auf.
    Manzarena war noch dickleibiger als auf dem Foto: Er musste um die hundertfünfzig Kilo wiegen. Er trug ein weißes T-Shirt und eine hellgraue Jogginghose und saß vornübergebeugt, die Arme unter dem Schreibtisch. Jeanne musste an den Film Sieben denken. Der dicke Mann, der geopfert wurde, weil er der Sünde der Gaumenlust frönte. Der Tatort erinnerte an die Szene, aber in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Sieben , ja, aber nachbearbeitet von Fritz Lang.
    Zweite Auffälligkeit: Der Mörder hatte das ganze Zimmer auf den Kopf gestellt. Die Bücherregale waren durchwühlt worden. Die Schubladen herausgezogen und geleert. Die Wandschränke umgestürzt. Der Boden war übersät von Büchern, die alle zu derselben Reihe zu gehören schienen: schillernde graue Einbände. Was hatte der Mörder gesucht?
    Dritte Auffälligkeit: der Kannibalismus. Der Geruch nach Blut und rohem Fleisch. Als wäre hier ein Bluthahn aufgedreht worden. Der Mörder hatte einzelne Stücke der Leiche verzehrt. Ein abgerissener Unterarm lag zwischen den Büchern. Gewebefetzen klebten an blutverkrusteten Seiten. Joachim war in der Stadt. Er hatte vom Fleisch des Vampirs von Managua gegessen. Um ihm welche Kraft zu rauben?
    Letzte bemerkenswerte Tatsache: keine blutigen

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