Im Wald der stummen Schreie
Polizei hier erkennungsdienstlich behandelt wurde, könnten wir ihn identifizieren, indem wir die Abdrücke vergleichen.«
»Kommen Sie her!«
Jeanne kam der Aufforderung nach.
»Sehen Sie da!«, stieß Eva Arias hervor.
Auf der Straße vor dem Haus hatte sich ein dichter Menschenauflauf gebildet. Man konnte sehen, wie sich die Passanten an die Gitter drängten, mit starren Zombie-Augen, beleuchtet von dem fahlen Scheinwerferlicht der Polizeifahrzeuge.
»Sie begreifen nicht, was geschieht«, flüsterte die Richterin mit ihrer dunklen Stimme. »Bislang trugen die Serienmörder bei uns immer Uniform und begingen ihre Taten in der Gruppe. Da ist die Vorstellung befremdlich, dass ein Einzeltäter über ein einzelnes Opfer herfällt, verstehen Sie? Es erscheint wie eine Art Luxus.« Und mit einem schwachen Lächeln fügte sie dumpf hinzu: »Ein europäischer oder nordamerikanischer Luxus.«
»Der Mörder stammt aus Ihrem Land.«
»Das bedeutet nichts.«
Eva Arias wandte sich Jeanne zu. Ihr Gesicht glich einem der Antlitze, die präkolumbische Bildhauer in Sandsteinblöcke gemeißelt hatten.
»Wir haben keinen wissenschaftlich-technischen Dienst. Wir haben keine Datenbanken mit Fingerabdrücken. Wir haben nichts, verstehen Sie?«
»Ich kann Ihnen helfen.«
»Wir brauchen keine Hilfe. Ich werde Sie zur Polizeiwache bringen lassen. Dort machen Sie Ihre Aussage und kehren anschließend zurück in Ihr Hotel. Lassen Sie uns nach unserer Methode arbeiten.«
»Was ist Ihre Methode?«
Wieder traf sie das Lächeln von Eva Arias völlig unvorbereitet. Nichts ließ erahnen, dass sich ihr Gesichtsausdruck von einer Sekunde auf die nächste so stark verändern würde.
»Unser Polizeichef ist ein ehemaliger sandinistischer Revolutionär. Einer derjenigen, die die Stadt León eingenommen haben. Inmitten der Kämpfe wollte er sich in der Hauptgarnison in die Luft sprengen. Aber der Sprengsatz versagte, und er kam mit dem Leben davon. Männer dieses Schlages leiten bei uns die Ermittlungen, Madame la Française. «
»Eine solche Tat sagt doch gar nichts darüber aus, ob dieser Mann auch ein tüchtiger Polizist ist.«
»Das können Sie nur sagen, weil Sie nicht von hier sind. Ich lasse Sie zum Revier fahren.«
Jeanne verstummte. Ein Polizist stand bereits in der Tür. Sie wollte ihm gerade folgen, als Eva Arias ihr nachrief:
»Wissen Sie, dass der Tod von Manzarena etwas Ironisches hat?«
»Was soll daran ironisch sein? Etwa das vergossene Blut?«
»Ich habe heute etwas über ihn erfahren.«
Jeanne kehrte um.
»Manzarena hatte etwas mit Ihnen gemein«, sagte die Nicaraguanerin.
»Nämlich?«
»Er interessierte sich für Kannibalismus. Heute Nachmittag habe ich einige Telefonate geführt. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass es in Nicaragua keine kannibalistischen Morde gab. Aber im Lauf der Gespräche mit anderen Richtern wurde mir klar, dass Manzarena bereits bei Ihnen angerufen hatte. Und er hat die gleichen Fragen gestellt wie Sie. Wobei er eine Einschränkung machte: Er suchte ein Verbrechen dieser Art im Jahr 1982.«
Der Hämatologe hatte also die gleiche Spur wie Jeanne verfolgt. Aber er verfügte über Erkenntnisse, die sie nicht besaß. Kannte er die Geschichte Joachims? Fürchtete er, dass der autistische Mörder ihn aus dem Weg räumen wollte? Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang das Päckchen, das er an Nelly Barjac geschickt hatte?
Eva Arias öffnete ihre Aktentasche und nahm ein Buch heraus. Es war eines der Bücher mit silbernem Einband aus dem Büro von Manzarena. Jeanne dachte an das Exemplar, das sie selbst eingesteckt hatte ...
»Ist Ihnen aufgefallen, dass seine Bibliothek nur aus Exemplaren eines Werks besteht?«
» Totem und Tabu von Freud.«
»Wussten Sie, dass man sich in den lateinamerikanischen Ländern für die Psychoanalyse begeistert?«
»Nein. Jedenfalls erklärt das nicht, wieso er so viele Exemplare davon besessen hat.«
»Nein, aber damit schließt sich der Kreis.«
Eva Arias betrachtete ihr Buch, das im Schein der Blaulichter glänzte.
»Als ich nach der Revolution studierte, habe ich mich ebenfalls für Psychoanalyse interessiert. Ich wollte sogar eine Abhandlung über die Bedeutung dieses Fachgebiets für die Entwicklung der Demokratie in unserem Land schreiben. Träumereien einer jungen Frau.« Sie schwenkte das Buch. »Haben Sie es gelesen? Wissen Sie, womit es sich befasst?«
Jeanne versuchte sich an Férauds Beschreibung zu erinnern. Aber sie fiel ihr
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