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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nicht mehr ein.
    »Nein.«
    »Mit dem Kannibalismus. Für Freud beginnt die Geschichte des Kannibalismus mit dem Vatermord in der Urhorde. Die Männer der Sippe haben ihren Vater getötet und verzehrt. Ende schlecht, alles schlecht.«

 
    43
    Als Jeanne die Lobby des Intercontinental betrat, schien es ihr, als wären alle schon über den Mord im Bilde. Als rieche sie nach dem Tod und trage Spuren des Verbrechens an sich. Die Atmosphäre von Luxus und Wohlleben störte sie.
    Sie durchquerte die klimatisierte Empfangshalle. In dem großen zentralen Innenhof des Grandhotels wurde sie abermals von der tropischen Hitze umfangen. Sie betrachtete die türkisfarbene Oberfläche des beleuchteten Schwimmbeckens, das Palmen säumten, und revidierte ihr Urteil. Der Ort besaß mehr Kraft, als sie geglaubt hatte. Der Fluch, der auf ihr lastete, drang nicht in diese Mauern ein. Wie Öl und Wasser geschieden bleiben. Sie behielt ihre düsteren Gedanken. Das Luxushotel bewahrte seine Gleichgültigkeit.
    Sie machte es sich in einem Liegestuhl bequem und dachte über ihre Reise nach. Sie hatte diesen Fall unbedingt übernehmen wollen. Sie hatte regelrecht gebettelt und intrigiert, um einen echten Kriminalfall zu bekommen. Jetzt hatte sie einen. Nicht offiziell, aber doch gewissermaßen als moralische Verpflichtung. War sie jetzt zufrieden? Fühlte sie sich wohl in diesem Sumpf aus Blut und Gewalt? Darum ging es nicht. Sie musste den Mörder ausschalten. François Taine und die anderen Opfer rächen. Basta. Positiv war, dass sie keine Angst hatte. Als hätte sie die erste Konfrontation mit Joachim in der Praxis von Féraud immunisiert ...
    Ein Ober riss sie aus ihren Gedanken.
    »Un Coca Zero, por favor.«
    Als sie auf dem Liegestuhl herumrutschte, spürte sie die spitze Ecke eines Gegenstandes in ihrer Tasche. Totem y Tabú . Sie blätterte das Buch durch. Die Worte von Eva Arias fielen ihr wieder ein. Auch sie hatte sich während ihrer Depression für Freud interessiert, da sie wie viele Betroffene verstehen wollte, wieso sich ihr Gemütszustand so sehr ihrer Kontrolle entzog. Aber dieses Forschungsfeld des Wieners hatte nie ihre Neugierde geweckt. Jeanne klappte das Buch wieder zu. Sie war zu zerstreut, um sich darin zu vertiefen.
    Schlug das Buch wieder auf, blätterte darin herum, drehte es hin und her, schüttelte es aus. Nichts. Eine großformatige spanische Ausgabe – besorgt vom Madrider Universitätsverlag. Wieso hatte Manzarena so viele Exemplare bei sich stehen? War in der Übersetzung oder in der ganzen Buchreihe ein geheimer Code versteckt? Hör auf rumzuspinnen ...
    Ihre Coca Zero kam. Sie trank und glaubte, ihr Körper werde gleich bersten, so schroff war der Gegensatz zwischen der Hitze der Nacht und der Kälte des Getränks. Jedes platzende Bläschen in ihrem Rachen war wie ein kleiner eisiger Stich.
    Als hätte diese Empfindung ihr plötzlich eine Erleuchtung beschert, nahm sie das Buch abermals in die Hand und tastete es ab. Den Einband, den Rücken, die Seiten. Sie war sich jetzt sicher, dass das Buch ein Geheimnis barg. Wieder tastete sie das Papier, den Karton, die erhabenen Buchstaben ab.
    Und wurde fündig.
    In dem dicken Einband war ein Brief versteckt. Man musste nur die eingeklebte Innenseite des Vorderdeckels entfernen, um ihn zu erreichen. Vorsichtig zog sie ihn heraus. Eigentlich hätte sie Handschuhe benutzen sollen, aber sie fing jetzt an, nicaraguanische Methoden zu übernehmen.
    Während sie den Brief herausnestelte, gingen ihr zwei Gedanken durch den Kopf. Der erste: Auch bei Ermittlungen gibt es Glücksfälle, wie ihr Emmanuel Aubusson immer wieder gesagt hatte. Sie hatte ein Buch, ein einziges, herausgegriffen, jenes, das in Reichweite von Eduardo Manzarena auf seinem Schreibtisch gelegen hatte, und genau darin war etwas versteckt. Der zweite Gedanke: Sie hatte zufällig das gefunden, was der Mörder gesucht hatte, als er das Büro zerlegte.
    Jeanne öffnete behutsam das zweimal gefaltete Blatt. Ein handgeschriebener Brief in Spanisch. Sie flüsterte die Worte vor sich hin, während sie gleichzeitig im Geist übersetzte:
    Eduardo,
    Sie haben Recht gehabt. Das Übel ist hier in Formosa. Zwar habe ich mit meinen eigenen Augen nichts gesehen, doch ich habe Zeugen befragt. Die Aussagen der Indios gehen alle in die gleiche Richtung. Im Wald der Seelen haust das Böse ...
    Vor allem habe ich etwas sehr Wichtiges beschaffen können. Eine Blutprobe von einem der infizierten Männer – einem Mann, den wir

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