Im Wald der stummen Schreie
sprechen.«
Die Frau entgegnete abweisend:
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich habe Eduardo tot aufgefunden.«
Die Sekretärin erstarrte. Jeanne zückte ihren Dienstausweis.
»Ich bin Ermittlungsrichterin in Frankreich. Die Ermordung Ihres Chefs steht in Zusammenhang mit einem Kriminalfall, in dem ich in Frankreich ermittle.«
Die zierliche Frau zog ein Papiertaschentuch aus ihrem Ärmel und schnäuzte sich.
»Was ... Was wollen Sie?«
»Wer ist Niels Agosto?«
Die Frau musterte Jeanne argwöhnisch, als fürchte sie eine Falle. Der Lärm um sie herum hielt unvermindert an. Krankenschwestern mit Kühltaschen gingen vorbei. Mürrisch dreinblickende Männer, die sich den Arm hielten, schlurften Richtung Ausgang.
Die Frau deutete auf eine Tür.
»Gehen wir in dieses Büro.«
Sie schlossen sich in einen Raum ein, in dem es brütend heiß war. Ein Hamam ohne Wasser und Dampf.
»Wer ist Niels Agosto?«, fragte Jeanne noch einmal.
»Der Leiter unserer mobilen Einheiten.«
»Was hat man sich darunter vorzustellen?«
»Plasma Inc. hat in ganz Lateinamerika Zweigniederlassungen. Stationäre Zentren. Aber auch Lastwagen, die kreuz und quer durch die einzelnen Länder fahren. Das sind die mobilen Einheiten. Niels Agosto ist für diese LKWs zuständig.«
»Sind sie auch in Argentinien aktiv?«
»Ja.«
»Haben Sie von einem Problem in diesem Land gehört?«
»Was für ein Problem?«
»Verseuchtes Blut.«
»Nein.«
Dieses »Nein« bedeutete »Ja«. Doch Jeanne hakte nicht nach.
»Wo kann ich Niels Agosto finden?«
»Er kann nicht mit Ihnen sprechen.«
»Ist er auf Reisen?«
»Nein, in der Fonseca-Klinik in Managua.«
Jeanne vermutete, der Mann habe sich die »Formosa-Krankheit« zugezogen.
»Was hat er?«
»Er wurde ...« Die Sekretärin zögerte, schnäuzte sich ein weiteres Mal. »Er wurde überfallen.«
Wieder eine Überraschung. Jeanne wartete auf weitere Erklärungen. Doch die Sekretärin schwieg. Jeanne hätte sie unter Druck setzen können, aber sie spürte, dass sie nur mit Geduld weiterkommen würde. Auch auf die Gefahr hin, sich in der Gluthitze in eine Pfütze zu verwandeln.
»Auf der Straße«, fuhr die kleine Frau schließlich fort. »Er war auf dem Weg nach Hause, spätabends. Messerstiche.«
»Wurde er ausgeraubt?«
»Nein.«
»Wann ist das passiert?«
»Vor einer Woche.«
Joachim konnte also nicht der Täter sein – im Übrigen war das nicht sein Stil.
»Weshalb wollte man ihn umbringen?«
»Es sind Extremisten. Es ist ...«
Die Sekretärin zögerte. Jeanne wartete geduldig. Die Nase in einem Papiertaschentuch, fuhr die Frau schließlich fort:
»Wegen des Blutes. Es gab Gerüchte. Es hieß, Niels Agosto habe verseuchtes Blut aus dem Ausland mitgebracht. Plasma Inc. vergifte unsere Krankenhäuser. Das ist eine Lüge!« Sie blickte auf. »Wir hätten niemals verseuchtes Blut eingeführt. Außerdem haben wir sehr strenge Vorschriften, die ...«
»Wer sind diese Extremisten?«
»Leute der extremen Rechten, die die Reinheit unserer Rasse schützen wollen.«
»Ist Niels Agosto schwer verletzt?«
»Ja, er hatte mehrere Stiche in den Bauch abbekommen und ...«
»Kann er sprechen?«
»Ich glaube, aber ...«
»Wo befindet sich die Fonseca-Klinik?«
»Im Westen, auf der Straße nach León ...«
»Als ich gestern kam, haben Sie mir gesagt, dass Manzarena im Laufe des Tages in sein Büro kommen würde. Das war gelogen, nicht wahr?«
»Eduardo hatte sich in seinem Haus eingesperrt. Er hatte Angst.«
»Vor einem Überfall?«
»Ja, und noch vor etwas anderem.«
»Wovor?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Jeanne überließ die schmächtige Frau ihrem Kummer. Ging wieder hinaus in die strahlende Sonne. Das grelle Licht traf sie mit der Wucht einer kupfernen Peitsche. Sie winkte ein Taxi heran. Nannte den Namen der Klinik und überließ sich ihren Gedanken, bis sie am Ziel ankamen.
Fünfzehn Minuten später musterte sie das Krankenhaus hinter der Staubwolke, die sich über der Fahrbahn erhob. Ein flaches Gebäude in einem eingezäunten sandbedeckten Sträuchergarten. Der Ort erinnerte eher an ein Gefängnis oder ein militärisches Forschungszentrum. Jeanne ging zum Pförtnerhäuschen. Erster Kontrollpunkt. Erste Schlappe. Die Besucher mussten einen ärztlichen Überweisungsschein oder einen von der Klinikverwaltung ausgestellten Passierschein vorzeigen. Hierzulande würde es Stunden dauern, sich eines dieser Dokumente zu beschaffen. Also musste sie improvisieren.
Jeanne
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