Im Wald der stummen Schreie
laut Auskunft eines Schildes von einer Pasionaria des Aufstandes den Truppen Somozas entrissen worden war. Jeanne versuchte sich die Szene vorzustellen. Die Schreie, die Schüsse, die Gewalt. Es gelang ihr nicht. Hier mutete alles wie ein leises Rauschen an.
Sie ging um die kleine Anhöhe herum und erblickte die Lagune, die sich am Fuß des Hanges erstreckte. Ein grau schimmernder See, gesäumt von einem Dickicht aus Binsen und Weiden. Der Anblick erinnerte an den Krater eines erloschenen Vulkans, dessen Lava durch friedvolles Wasser ersetzt worden war. Landschaftsgärtner hatten aus Seerosen große Buchstaben gebildet und an der Wasseroberfläche ausgelegt: »TISCAPA« ... Jenseits davon sah man die Stadt, eine langgestreckte, von funkelnden Pailletten überzogene Ebene, die am dunstverhangenen Horizont verschwamm.
Jeanne atmete tief ein. Sie hatte den idealen Ort zum Lesen gefunden. Ein Refugium zwischen Himmel und Wasser, das gewiss kleine Lichtungen und Sitzbänke bereithielt. Sie lenkte ihre Schritte Richtung Lagune und entdeckte einen dieser Schlupfwinkel. Kein Mensch weit und breit. Jeanne machte es sich bequem in diesem Raum mit grünen Wänden, in dem eine wohltuende Frische herrschte. Sie schlug das Buch auf.
Einige Seiten waren blutverklebt. Eine passende Einstimmung. Im Vorwort wies der Übersetzer der spanischen Ausgabe darauf hin, dass das 1913 unter dem Titel Totem und Tabu erschienene deutsche Original eines der umstrittensten Werke Freuds sei. In diesem Essay habe sich der Erfinder der Psychoanalyse auf ganzer Linie – oder beinahe auf ganzer Linie – geirrt. Seine Theorie sei umgehend von Paläontologen und Anthropologen widerlegt worden. Dennoch sei die Faszination dieses Werks seit hundert Jahren ungebrochen. Als habe Freud, ungeachtet seiner Irrtümer, auf einer anderen Ebene ins Schwarze getroffen . Als sei es ihm gelungen, mit einer tiefen Wahrheit über den Menschen in Resonanz zu treten.
Jeanne beschloss, sich selbst ein Urteil zu bilden. Ein lauer Wind auf ihrem Gesicht ... Das Rascheln von Blättern hinter ihrem Rücken ... Mitreißende Seiten zwischen ihren Fingern ...
In diesem Essay versuchte Freud die Evolution des Menschen mit Hilfe der von ihm begründeten Disziplin, der Psychoanalyse, zu erklären. Er führte das Verhalten und die Triebfedern des Handelns der Urmenschen auf den Ödipuskomplex zurück. Ein tiefer, übermächtiger Drang, der sich sozusagen vor Ödipus, vor der Antike, bevor der Mythos überhaupt einen Namen trug, manifestierte.
Freud behauptete nun – und darin bestand das Neue seiner Theorie –, dass dieser Drang zum Inzest und zum Vatermord den Menschen bewusst gewesen und innerlich von ihnen angenommen worden sei. So sei es eines Tages zu der »Urszene« gekommen. In einer längst vergessenen Epoche lebten die Menschen in kleinen Sippen, die jeweils der despotischen Herrschaft eines Mannes unterworfen waren, der den ausschließlichen Zugang zu sämtlichen fortpflanzungsfähigen Frauen hatte. Doch eines Tages begehrten in einer dieser Gruppen die Söhne gegen den dominierenden Vater auf. In einem Akt kollektiver Gewalt töteten sie den Vater und verzehrten seine Leiche, um endlich die Frauen der Sippe zu besitzen.
Nach dem Mord überkamen sie furchtbare Schuldgefühle. Daraufhin verleugneten und verdrängten sie ihre Schandtat und erfanden eine neue Gesellschaftsordnung. Sie haben gleichzeitig die Exogamie – das Verbot des sexuellen Verkehrs mit Frauen der eigenen Sippe – und, zum Andenken an den toten Vater, den Totemismus eingeführt. Totemismus, Exogamie, Inzestverbot und Verbot des Vatermords: Das war die Geburtsstunde des allen Religionen gemeinsamen Regelkanons. Die negativen, auf Unterdrückung beruhenden Grundlagen der menschlichen Zivilisation waren damit gelegt.
Nach Ansicht von Experten handelte sich dabei um ein Ammenmärchen. Eine Urhorde hatte es nie gegeben. Ebensowenig den Vatermord. Die Evolution des Menschen hatte Jahrmillionen gewährt, und sie konnte nicht mit derartigen Ereignissen begonnen haben.
Trotzdem war Totem und Tabu noch immer ein Kultbuch. Den Beweis dafür hatte Jeanne bei Eduardo Manzarena gefunden, der sich aus Exemplaren dieses Buches ein Refugium gebaut hatte. Das Faszinierende an diesem Werk war, dass es ungeachtet seiner Fehler die Wahrheit sagte. Wie konnte eine falsche Idee die Wahrheit enthalten? Und zwar weit mehr als irgendeine anthropologische Tatsache, die mit der Radiokarbonmethode datiert und von Scharen
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