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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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zurückgelassen hatte.
    Jeanne entschuldigte sich und fragte dann:
    »Señor Nils Agosto?«
    Er schloss die Augen.
    »Soy Jeanne Korowa, jueza francesa.«
    Als Antwort zog er die Brauen hoch. Jeanne fragte sich, ob er vielleicht die Stimme verloren hatte. Etwa ein Messerstich in die Stimmbänder? Ein Zellstoffkittel reichte ihm bis zum Hals. Sie machte noch einen Schritt. Sie wollte mit ihren Erklärungen fortfahren, hielt aber erstarrt inne.
    Plötzlich waren alle Lichter erloschen. Im Zimmer. Auf dem Gang. Im Garten draußen. Durch das Fenster fiel nur das matte Mondlicht. Sie konnte sich gerade noch sagen, dass die Technik hier wirklich mal erneuert werden sollte, als sie ein kurzes, heftiges Geräusch aus ihren Gedanken riss. Panische Angst überkam sie.
    Jeanne wandte den Kopf und sah in der Finsternis eine grüne Schlange und eine rote Flamme. Im nächsten Moment schon wurde sie von der Schlange gegen die Wand gedrückt. Eine mit Arabesken und Spiralen verzierte riesige Tätowierung. Darunter harte Muskeln. Die Schlange würde sie töten. Sie erdrosseln wie eine Boa constrictor. Eine Klinge schimmerte im Halbdunkel wie ein Tropfen Quecksilber und drückte gegen ihren Backenknochen.
    »Hija de puta, no te mueves!«
    Jeanne glaubte, gleich in Ohnmacht zu fallen. Sie registrierte Bewegungen im Finstern. Die rote Flamme war ein Tuch um den Kopf des zweiten Angreifers, der über den Kranken in seinem Bett herfiel. Das Herz stockte ihr bei dem Gedanken, was Niels Agosto jetzt wohl bevorstand. Ein Niels Agosto, der keinen Ton von sich gab, sich nicht wehrte. Als füge er sich bereits resigniert in die Unabänderlichkeit des Todes. Eine Resignation, die gleichsam das seelische Vermächtnis ganzer Generationen von Nicaraguanern war, die nichts anderes gekannt hatten als Verfolgungen, Gemetzel und Plünderungen ...
    Die »Flamme« packte die Kinnbacken von Niels so, dass dieser das Gesicht seines Mörders deutlich sehen konnte.
    »Für den Mann aus Ton!«
    TSCHAK! Der Mann stieß sein Messer in das Auge Agostos. Eine Blutfontäne. So kurz, so hoch, dass sie sich augenblicklich in der Dunkelheit verflüchtigte.
    »Für den Mann aus Holz!«
    TSCHAK! TSCHAK! Der Mörder rammte seine Klinge zwei Mal in die Kehle Agostos. Erneute Blutspritzer, langsamer, schwerer. Ein schwarzes Band, das vom Hals ausging, zeichnete auf dem Kittel eine größer werdende Pfütze. Es roch nach Eisen. Ein Aufglühen in der Hitze. Der Geruch der Opferung breitete sich wie berauschende Dämpfe im Zimmer aus. Jeanne dachte weder an die »Schlange« noch an die Klinge, die ihr Gesicht nach oben drückte. Die Nacht wurde flüssig. Die Nacht ergoss sich in Blutflüssen ...
    »Für den Mann aus Mais!«
    Die »Flamme« rammte ihr Messer noch einmal in die Kehle Agostos, aus der das Blut sprudelte. Wirbel barsten. Die Klinge knirschte gegen die Knochen. Der Mörder stieß einen heiseren Schrei aus und schnitt weiter, die Hand bis zum Gelenk in die klaffende Wunde versenkt.
    Schließlich trennte er den Kopf ab und warf ihn, ausspuckend, auf den Boden.
    »Wir wollen kein Blut von Untermenschen!«
    Schlange und Flamme.
    Mythische Mörder.
    Aber diese Mythen sind mir verboten.
    Diese Mythen sind Teil einer Kosmogonie, die ich nicht kenne. Als der Schädel auf dem Boden aufprallte, schloss Jeanne die Augen.
    Als sie sie wieder öffnete, waren die Mörder verschwunden.
    Sie blickte unter sich.
    Der Kopf war bis zu ihr gerollt.

 
    47
    »Eine der beiden Hochspannungsleitungen ist ausgefallen. Um 18.15 Uhr. Das kann passieren. Das kommt sogar oft vor – in den Vereinigten Staaten, in Europa. Für diesen Fall sieht unser Sicherheitssystem vor, dass automatisch drei Notstromaggregate anspringen. Doch von den dreien haben nur zwei funktioniert. Auch das kann vorkommen. Aber es ist ein Sabotageakt. Da bin ich mir sicher.«
    Eva Arias stand vor Jeanne, die auf dem Gang des Hauptgebäudes der Klinik auf einem Stuhl zusammengesunken war. Die Nicaraguanerin hatte sie dorthin geführt, zweifellos damit sie nicht noch einmal Ungeschicklichkeiten der Polizisten am Tatort mitbekam.
    Die barfüßige Richterin hielt eine Dose Pepsi Max in der Rechten, als wäre es eine Handgranate, die nur noch entsichert werden musste. Der Stromausfall schien ihr keine Ruhe zu lassen. Sie wollten Jeanne unbedingt davon überzeugen, dass »dies in jedem anderen Land genauso gut hätte passieren können«. Dass es keinen Zusammenhang zwischen dieser Stromstörung und dem Entwicklungsstand

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