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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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von Spezialisten analysiert worden war?
    Jeanne ahnte die Antwort. Freuds Hypothese war ein Mythos. Der Ödipuskomplex – das Begehren der Mutter, der Mord am Vater – hatte von jeher im Unbewussten des Menschen existiert. Ein Mal, ein einziges Mal nur hatte er vielleicht die Linie überschritten und es anschließend bereut. Dieses Schuldgefühl bildete die Grundlage unserer Gesellschaften und unserer Religionen. Und auf einer noch tieferen Ebene hatte dieses Ausagieren die Zensurinstanz in unserem Bewusstsein hervorgebracht: das Über-Ich. Wir hatten diese Katastrophe verinnerlicht. Ein Teil unserer Psyche hatte sich zum »Richter-Aufseher« aufgeschwungen, damit sich dies nicht wiederholte. Im Übrigen war es nicht weiter von Belang, ob sich das Ereignis wirklich zugetragen hatte. Der Schatten, den es warf, zählte.
    Dieser Urmythos mit Mord, Inzest und Kannibalismus hatte sich einem jeden von uns tief in die Seele eingeprägt. Jedes Kind durchlebte dieses prähistorische Ereignis auf einer imaginären Ebene. Unbewusst wollte jedes Kind diese Taten begehen, schreckte dann aber davor zurück, zensierte sich und wurde so zu einem Erwachsenen. Freud behauptete sogar, unsere Zellen bewahrten, über einen physiologischen Mechanismus, Erinnerungsspuren an diesen barbarischen Mord. Eine Art genetisches Erbe, das er »phylogenetisches Gedächtnis« nannte. Noch so eine fesselnde Idee. Eine Art Urschuld, die in unseren Körper, in unsere Gene eingeschrieben war ...
    Jeanne sah auf ihre Uhr: 17.00 Uhr. Sie musste jetzt ihre Ermittlungsarbeit fortsetzen. Die wahre – und die einzige – Frage, die sie sich stellen musste, lautete: Welche Verbindung bestand zwischen Totem und Tabu und ihrem Fall? Diesem Mythos eines kollektiven Mordes und der psychischen Erkrankung von Joachim?
    Da kam ihr eine Idee, die noch verrückter war. Womöglich hatte das Virus aus dem legendären Wald etwas mit dem Ödipuskomplex zu tun. Diese Krankheit verursachte vielleicht eine Art primitive Regression, eine Freisetzung archaischer Triebe, die so vehement war, dass die Zensur-Instanz im Gehirn ausgeschaltet wurde ...
    Jeanne wollte einige Passagen des Werkes noch einmal durchlesen. Aber es dämmerte bereits, und die Wörter waren nicht mehr zu erkennen. Sie erhob sich. Ihr schwirrte der Kopf. Sie musste etwas essen.
    Anschließend würde sie zur Fonseca-Klinik fahren.
    Sie würde den Mann befragen, der sich dem Bösen genähert hatte: Niels Agosto.

 
    46
    Jeanne kaufte sich rasch ein quesillo – ein Sandwich aus Tortillas und Schmelzkäse – und fuhr gleich darauf zum Krankenhaus. Als sie dort eintraf, war es bereits dunkel – die Nacht hatte sich über die Stadt gelegt. Sie ließ sich ein Stück entfernt absetzen, um zu Fuß hinzugehen und sich unter die abendlichen Besucher zu mischen, die vor dem Portal Schlange standen. Jenseits des Zauns sah sie das eingeschossige Gebäude, das einer Quarantänestation glich. Man wusste nicht mehr so genau, wer eigentlich geschützt wurde: die Kranken im Innern oder die Passanten draußen.
    Den ersten Kontrollpunkt passierte sie problemlos. Blieb die zweite Hürde: die Wachleute vor dem Pavillon, in dem Niels Agosto untergebracht war. Sie waren nicht mehr da. Waren sie essen gegangen? Eine müßige Frage. In tropischen Ländern musste man die Gelegenheit immer beim Schopfe packen ...
    Sie schlich sich in den Pavillon. Es stank nach Schweiß, Fieber und Medikamenten. Eine schwache elektrische Beleuchtung. Drückende Hitze. Eine Atmosphäre von Verfall und Zersetzung, die augenblicklich die Vitalkräfte lähmte. Jeanne fühlte sich auf der Stelle selbst krank, so als wäre sie unter die noch warmen Bettlaken eines gerade Verstorbenen geschlüpft.
    Auf dem Flur befanden sich zwei Türen. Die rechte war mit Brettern zugenagelt. Jeanne klopfte an die linke Tür. Keine Reaktion. Sie öffnete die Tür und erblickte einen Niels Agosto, der recht fit aussah. Sie hatte damit gerechnet, einem Sterbenskranken zu begegnen. Eingewickelt wie eine Mumie. Aber der Patient war ein gutaussehender junger Mann mit zurückgekämmtem Haar – Typ Latino –, der auf seinem Bett saß und in aller Ruhe La Prensa las.
    Als Jeanne das Zimmer betrat, zuckte er zuerst zusammen, entspannte sich dann aber schnell. Sein Lächeln verriet seinen Zustand. Sie bemerkte jetzt diese Schwäche, die ihr vertraut war, denn sie hatte schon einige verletzte Zeugen im Krankenhaus vernommen. Die Spuren, die die Gewalt am Körper und in der Seele

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