Im Wald der stummen Schreie
reihte sich in die Warteschlange ein, die sich am Zaun entlangzog. Besucher. Schwarzhändler. Sie hatte keinerlei Probleme, sich einen Überweisungsschein zu besorgen. Erspähte in nur hundert Metern Entfernung einen Copyshop. Fertigte eine gefälschte Überweisung an, die auf ihren Namen lautete und jeden Wachmann täuschen würde. Sie kehrte um, zeigte den gefälschten Schein vor und wurde durchgelassen.
Niels Agosto war im Pavillon 34 untergebracht, ganz am Ende des Gangs, der das Zentralgebäude durchquerte. Jeanne ging über den teilweise im Schatten liegenden offenen Gang und hielt unvermittelt inne. Sie hätte es sich denken können. Zwei Polizisten bewachten die Tür zum Pavillon. Da Agosto das Opfer eines »politischen« Anschlags war, genoss er Personenschutz.
Zwecklos, es jetzt zu versuchen. Man würde sie abweisen und umgehend Eva Arias verständigen. Aber sie wollte nicht einfach aufgeben. Schließlich war sie in Nicaragua. Die disziplinarischen Regeln waren recht locker. Um 18.00 Uhr würde es dunkel werden. Dann wurden die Wachposten abgelöst, oder die Typen würden eine Kleinigkeit essen gehen. Ein Moment, in dem sie unbeobachtet war, oder irgendeine andere Schwachstelle, die sie ausnutzen konnte.
Sie kehrte zurück zum Hotel. Um die Mittagszeit schlug sie die Tür zu ihrem Zimmer zu. Drehte die Klimaanlage voll auf und zog eine Zwischenbilanz ihrer Erkenntnisse und der ungelösten Fragen. Antoine Féraud. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Leiche des Psychiaters, die in einem Vorort von Managua auf einer Müllkippe lag. Sie war fest davon überzeugt, dass er mit dem Feuer gespielt hatte. Er hatte den Vater und den Sohn gefunden und ... Sollte sie nicht besser mit Eva Arias darüber sprechen? Wenn sie jetzt nichts herausfand, musste man Féraud zur Fahndung ausschreiben.
Jeanne nahm ihr Handy und überprüfte ihre Sprachnachrichten und ihre SMS. Kein Lebenszeichen von Féraud. Auch nichts von Reischenbach. Sie hatte niemandem außer ihm von ihrer Reise erzählt. Dieses Schweigen war ein Teil der Reise. Sie befand sich auf einem anderen Kontinent. Sie war eine andere Person.
Jeanne ließ sich ein altmodisches Telefonbuch – einen Wälzer mit mehreren Tausend Seiten – aufs Zimmer bringen und rief die Hotels an, die sie am Vortag noch nicht kontaktiert hatte. Kein Antoine Féraud. In ihrem Zimmer herrschte mittlerweile eine sibirische Kälte, aber diese Temperatur hielt sie wach.
Ohne ihren Namen zu nennen, rief sie bei der französischen Botschaft, beim Konsulat und beim französischen Kulturinstitut an ... Nichts. Anschließend telefonierte sie mit den Autoverleihfirmen der Stadt. Niemand zeigte sich bereit, ihre Fragen zu beantworten – Vertraulichkeit verpflichtet. Schließlich fiel ihr eine andere Erklärung für ihren Misserfolg ein: Womöglich besaß der Psychiater eine Information – von der sie keine Ahnung hatte –, die ihn bereits an einen anderen Ort geführt hatte. Etwa nach Argentinien?
Im Schneidersitz auf dem Bett kauernd, klapperte sie mit den Zähnen. 15.00 Uhr. Sie hatte keinen Hunger – wie lange lag ihre letzte richtige Mahlzeit zurück? Sie war nicht müde. Und es gab nichts mehr für sie zu tun.
Da fiel ihr Blick auf das Exemplar von Totem y Tabú , das sie bei Manzarena hatte mitgehen lassen. Bis zum Abend konnte sie ihr psychoanalytisches Wissen erweitern. Der Ursprung der menschlichen Kultur, durchgesehen und erläutert von Sigmund Freud.
Jeanne griff nach dem Buch und ihrem Zimmerschlüssel.
Sie wollte sich an einen ruhigen Ort im Freien zurückziehen und dieses Werk studieren.
45
Managua besitzt viele angenehme und ruhige Orte, die zu Muße und Erholung einladen. An ihrem höchsten Punkt beherbergt die Stadt eine wahre Oase des Friedens: den geschichtsträchtigen Nationalpark Loma de Tiscapa.
Jeanne hatte den Park bereits bei ihrer ersten Reise besucht. Er lag wenige hundert Meter vom Intercontinental entfernt: Man musste nur der breiten Allee folgen, die den Hügel hinaufführte. Gelb gestrichener Gehsteig. Ein Drahtzaun umschloss den Park, als beherberge auch er ein geheimes Forschungszentrum ... Und schon betrat man eine üppige Grünanlage, abseits von Verkehr und Abgasen.
Nach zehn Minuten erreichte sie den Gipfel. Hier wurde die Revolution gepriesen. Die riesige, aus schwarzem Metall gefertigte Figur eines Mannes mit Cowboy-Hut sollte Augusto Cesar Sandino darstellen, den ehemaligen Volksführer. Zu seinen Füßen stand ein kleiner Panzer, der
Weitere Kostenlose Bücher