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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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ihres Landes gab.
    »Ein Sabotageakt«, wiederholte sie. »Die Täter haben den Mordanschlag sorgfältig geplant.«
    Jeanne machte eine Geste, die sagen wollte: »Lassen Sie es gut sein mit Ihren Kabelgeschichten.« Sie hatte um einen Tee gebeten. Irgendwo hatte sie gelesen, dass ein heißes Getränk das beste Mittel sei, um den Durst zu stillen. Aber man sollte niemals glauben, was in Illustrierten stand. Jetzt warf sie begehrliche Blicke auf die kleine eisgekühlte Dose der Richterin.
    »Weshalb wurde er Ihrer Meinung nach umgebracht?«
    »Wegen des Blutes.«
    Das war auch Jeannes Meinung, aber sie wollte wissen, wie sich die Nicaraguanerin dies im Einzelnen erklärte.
    »Niels Agosto war für die mobilen Einheiten von Plasma Inc. und damit für die nach Nicaragua eingeführten Blutkonserven zuständig. Anders gesagt, er injizierte das Blut von Fremden in die Venen des nicaraguanischen Volkes.«
    »Ist das denn ein Verbrechen?«
    »Was dieses Blut anlangt, schon.«
    »Welches Blut?«
    »Die jüngsten Lieferungen aus Argentinien. Man behauptet, es sei Affenblut.«
    Es wurde immer besser. Zunächst war von verseuchtem Blut die Rede gewesen. Jetzt sollte es sich sogar um tierisches Blut handeln ... Das waren Ammenmärchen eines ungebildeten, rückständigen Volkes. Jeanne verkniff sich jeglichen Kommentar. Im Übrigen war diese Anwandlung von Geringschätzung nur eine Folge dessen, was sie gerade erlebt hatte.
    Eva Arias schien ihre Gedanken zu erraten:
    »Es sind Gerüchte. Es heißt, Plasma Inc. hätte tierisches Blut importiert und damit seine Vorräte gestreckt.«
    »Medizinisch gesehen, ist das nicht haltbar.«
    »Die Leute auf der Straße glauben daran. Im Übrigen riecht für sie alles, was mit Eduardo Manzarena zu tun hat, nach Schwefel.«
    Jeanne begriff, dass die Täter sich nach dem Mord an Niels Agosto auch den Vampir von Managua vorgeknöpft hätten. Aber die Arbeit hatte schon ein anderer erledigt. Sie sagte sich auch, dass dieser Aberglaube vielleicht ein Körnchen Wahrheit enthielt. Wenn das von Niels Agosto eingeführte Blut mit einem Virus verseucht war, das Infizierte in wilde Bestien verwandelte, konnte dies solche Gerüchte erklären.
    Eva Arias trank einen Schluck. Ihre Wut schien nachzulassen. Als sie am Tatort eingetroffen war, hatte Jeanne geglaubt, Arias würde sie am liebsten erwürgen. Die Französin war gerade einmal zwei Tage im Land, und schon war hier die Hölle los – jeden Tag passierte ein Mord.
    »Rassistische Vorurteile in Bezug auf das Blut sind uralt«, fuhr die Nicaraguanerin fort. »Im Zweiten Weltkrieg sind die deutschen Soldaten in Nordafrika lieber gestorben, als sich das Blut von Juden oder Arabern übertragen zu lassen. Und die amerikanischen Soldaten – die Weißen – haben dem Roten Kreuz mitgeteilt, dass sie sich kein Blut von Schwarzen übertragen lassen würden, weil sie darin eine Gesundheitsgefahr sahen.«
    Jeanne schwieg. Dieser historische Exkurs überraschte sie. Nicht ohne Scham wurde ihr klar, dass sie Eva Arias für keine besonders gebildete Person hielt. Unwillkürlich sah sie in der Richterin noch immer eine recht primitive Bäuerin. Abermals eine Anwandlung von Geringschätzung ...
    Aber die Nicaraguanerin war an diesem Abend gut in Form:
    »Der Handel mit Blut ist in Lateinamerika immer gleichbedeutend mit Ausbeutung und Elend. Die armen Länder haben nur zwei Produkte, die sie verkaufen können: ihre jungen Frauen und ihr Blut. In Brasilien verzeichnen die Firmen, die für Blutspenden Geld bezahlen, jedes Jahr vor dem Karneval in Rio eine deutliche Zunahme ihres Geschäftvolumens. Die Brasilianer verkaufen ihr Blut, um sich ihr Kostüm bezahlen zu können ...«
    Jeannes Gedanken schweiften ab. Bilder von der grauenhaften Tat, die sie gerade miterlebt hatte, überfielen sie mit brutaler Gewalt. Die hoch aufschießenden Blutfontänen. Die Schreie der Mörder. »Hija de puta!« Diese Rückblenden waren wie Elektroschocks, die sie in krampfartige Zuckungen versetzten.
    »Zu allem Überfluss«, fuhr Arias fort, »exportiert Plasma Inc. seine Vorräte in die Vereinigten Staaten. Was mehr oder minder auf einen Pakt mit dem Teufel hinausläuft.«
    Jeanne blickte auf. Dieser letzte Satz weckte in ihr eine Erinnerung:
    »Niels Agosto war bereits von Fanatikern der extremen Rechten überfallen worden. Glauben Sie, dass es dieselben sind, die heute Abend zugeschlagen haben?«
    Eva ignorierte die Frage:
    »Waren die Täter tätowiert?«
    »Ja, zumindest einer.

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