Im Wald der stummen Schreie
Derjenige, der mich in Schach gehalten hat.«
»Was für eine Tätowierung war das?«
»Eine Schlange. Auf dem Arm.«
»Das ist das Kennzeichen der Gangs, der Maras.«
Jeanne kannte den Namen. Die Maras waren brutale Gangs, die am Ende der Bürgerkriege in Mittelamerika entstanden waren. Die berühmtesten waren die Maras von El Salvador: die Mara 18 und Mara Salvatrucha. Die Banden lieferten sich einen erbarmungslosen Krieg. Ihre Mitglieder brachten durch Tätowierungen, Kleidung und spezifische Gesten ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gang zum Ausdruck.
»Ich habe geglaubt, die Maras fänden sich vor allem in El Salvador.«
»Auch in Guatemala, und jetzt bei uns.«
Jeanne erinnerte sich an eine Anekdote. In El Salvador hatte die Regierung mit einer gigantischen Verhaftungswelle auf die zunehmende Bandenkriminalität reagiert. Die Polizei hatte fast 100 000 tätowierte junge Männer festgenommen und zu guter Letzt nur fünf Prozent davon in Haft behalten. Es war zu zahllosen polizeilichen Übergriffen gekommen. Auch Taubstumme, die sich mit Gebärdensprache verständigten, waren irrtümlich inhaftiert worden.
»Die Tätowierung spielt für sie eine wichtige Rolle«, fuhr Eva Arias fort. »Es ist eine Art Symbolsprache.«
»Was bedeutet die Schlange?«
»Keine Ahnung. Es heißt, jede Tätowierung stehe für einen Mord oder für eine Gefängnisstrafe. Man weiß es nicht genau. Bestimmte Tattoos sind gewissermaßen Rangabzeichen wie bei der russischen und japanischen Mafia.«
»Und was hat das mit Blut zu tun?«
»Einige guatemaltekische Gangs glauben an die Reinheit unserer Rasse. Das ist lächerlich. In Mittelamerika ist die Rassenmischung von Ureinwohnern und Spaniern seit vierhundert Jahren eine Realität.«
»Kennen Sie die Mitglieder dieser rechtsextremen Gangs?«
»Häufig sind es ehemalige Elitesoldaten, die von mexikanischen Kartellen angeworben werden, um Drogen nach Nordamerika zu schmuggeln. Nicht gerade ›reinrassige‹ Personen. Dennoch sind sie besessen von der Idee der Rasse und der Reinheit der Völker. Echte Nazis.«
Jeanne stand auf und trat neben die Richterin. Die Hünin strahlte eine wohltuende Frische aus. Ein wenig wie die Marmorstatuen in Rom, die selbst in der prallen Sonne eine gewisse Kühle bewahrten.
»Als der Angreifer Agosto erstochen hat«, nahm Jeanne den Gesprächsfaden wieder auf, »murmelte er seltsame Worte.«
»Was für Worte?«
»Er hat von einem Mann aus Ton, einem Mann aus Holz und einem Mann aus Mais gesprochen. Er schien sich im Namen dieser Männer auf sein Opfer zu stürzen. Sagt Ihnen das etwas?«
Die Richterin drückte die Cola-Dose mit der Hand zusammen und warf sie in einen Mülleimer. Im Park spannten Polizisten gelbe Bänder mit der Aufschrift VORSICHT! Ihre Gesten wirkten erschöpft, ihre Uniformen abgetragen. Die Verbrechen, der Staub, die Mattigkeit hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Natürlich«, antwortete Eva endlich. »Das alles ist die Schuld der Mayas.«
»Wieso der Mayas?«
»Machen Sie Ihre Aussagen auf dem Revier. Ich hole Sie in einer Stunde ab.«
»Und wohin fahren wir?«
»Zu mir – ich lade Sie zum Abendessen ein.«
48
Die Villa von Eva Arias glich der von Eduardo Manzarena, nur dass sie etwas schlichter war. Die gleichen verwinkelten Terrassen und Veranden, die nahtlos in den Garten übergingen und das Haus zu den Sträuchern, der sengenden Hitze und der von Moskitos durchschwirrten Dunkelheit öffneten ... Der zweite Unterschied bestand darin, dass es in dem Haus von Kindern wimmelte. Sie wurden Jeanne vorgestellt: Laetizia, neun Jahre, Anton, sieben Jahre, Manuela, dreizehn Jahre, Minor, vier Jahre ... Dann führte Eva Arias die Schar in die Küche und versprach, in einigen Minuten zurück zu sein.
Im Wohnzimmer betrachtete Jeanne die Porträtaufnahmen, die auf einer Bambuskommode standen. Eva Arias in einem Drillichanzug mitten im Dschungel, eine Maschinenpistole schwenkend. Eva Arias, wieder in Uniform, umarmt einen anderen Guerillero, der wie Che Guevara aussieht. Eva Arias, die ihre Ernennungsurkunde als Richterin in Empfang nimmt ...
Jeanne beneidete sie um dieses Leben, das im Zeichen der Liebe und der Revolution stand. Sie war eine echte Guerillera, die für ihr Land und zugleich für ihre Anerkennung als Frau gekämpft hatte. All dies berührte Jeanne im Innersten. Ganz zu schweigen von den krakeelenden Kindern nur wenige Meter entfernt. Nach der Hölle, die sie im Pavillon 34 erlebt hatte, fühlte sie
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