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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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sich jetzt wie im Paradies.
    Vor allem aber war sie am Leben. Einmal mehr war sie dem Schlimmsten entronnen. Diese wiederholten Begegnungen mit dem Tod hatten allerdings auch etwas Positives: Sie machten jede Minute zu etwas Kostbarem. Jeanne spürte ein wohliges Kribbeln in den Adern. Jede Empfindung erschien ihr wunderbar, von unschätzbarem Wert.
    »Ich würde Ihnen gerne sagen, dass es eine schöne Zeit war. Aber da bin ich nicht so sicher ...«
    Eva Arias war ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Jeanne betrachtete ein Foto, das sie mit erhobenen Armen, auf einem Panzer sitzend, inmitten der jubelnden Menge zeigte.
    »Trotzdem ... die Revolution, die Liebe ...«
    »Sie müssen sehen, was wir durchgemacht haben. Die Diktatur, die Repression, die Gewalt. Man würde niemandem wünschen, unter dem Joch Somozas gelebt zu haben. Ich zum Beispiel habe meine ganze Familie verloren.«
    Jeanne stellte das Foto zurück.
    »Was ist aus Somoza geworden?«
    »Er ist 1978 nach Paraguay geflohen. Der dortige Präsident, Alfredo Stroessner, war einer seiner Freunde. Er hat ihn vor Mordanschlägen geschützt. Nicht bis zum Schluss. In gewisser Hinsicht ist sein Ende sogar komisch.«
    »Wieso komisch?«
    »Somoza hatte eine Schwäche – neben etlichen anderen, wohlgemerkt –, und das waren die Frauen. Als er begonnen hat, der Ehefrau Stroessners den Hof zu machen, fand dieser das nicht witzig. Da hat er Sandinisten ins Land gelassen, die Somoza mit Panzerfäusten umgebracht haben. Wie man bei Ihnen sagt: Cherchez la femme .«
    Jeanne nahm ein anderes Foto in die Hand – Eva und ihr »Che« im Hochzeitsstaat.
    »Mein Mann Alberto. Er ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben.«
    »Tut mir leid.«
    »Während der Revolution hielten wir uns für unsterblich, unbesiegbar. Seither haben wir eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Die Politik, die Krankheit, die Korruption – alle Wechselfälle des menschlichen Daseins haben uns eingeholt ...«
    »Sie scheinen sich sehr geliebt zu haben.«
    »Ja. Aber die Revolution, die Politik liebte Alberto noch mehr. Er war ein Held, ein sehr harter Held.«
    »Was meinen Sie mit ›hart‹?«
    »Haben Sie nicht Henry Kissingers Memoiren gelesen?«
    »Nein.«
    »Über seinen vietnamesischen Amtskollegen Lê Duc Tho, mit dem er ein Friedensabkommen für Vietnam auszuhandeln versuchte, schrieb Kissinger: ›Lê Duc Tho war ein echter Heros. Solche Helden besitzen eine eiserne Willenskraft, die wir uns nicht vorstellen können. Es sind in der Regel keine angenehmen Zeitgenossen: Ihre Unnachgiebigkeit grenzt an Fanatismus, und sie kultivieren in sich nicht jene Charakterzüge, die man braucht, um erfolgreich Friedensverhandlungen zu führen.‹ Alberto war ein Mann von diesem Schlag.«
    Eva hatte das Zitat von Kissinger auf Englisch vorgetragen und war zum Schluss wieder ins Spanische gewechselt. Dann kam sie völlig unvermittelt auf den Stand der Ermittlungen zu sprechen:
    »Wir haben die Leibwächter und die Hausangestellten von Manzarena ausfindig gemacht.«
    »Wissen sie etwas?«
    »Nein. Als die Tat geschah, waren sie nicht mehr da.«
    »An welchem Tag war das?«
    »Zweifellos vorgestern.«
    »Weshalb haben sie das Weite gesucht?«
    »Sie sind nicht geflohen. Manzarena hatte sie weggeschickt. Er erwartete wichtige Gäste, mit denen er unter vier Augen reden wollte.«
    »Hat er gesagt, um wen es sich handelte?«
    »Nein. Er hat einem Vertrauten lediglich mitgeteilt, dass es zwei Personen seien, ein Vater und sein Sohn.«
    Der alte Mann und Joachim.
    Eva Arias fuhr fort:
    »Außerdem hat er gesagt, dass es um Forschungen gehe, die für die Menschheit von größter Bedeutung seien. Ziemlich abstrus ... Jedenfalls können wir sicher sein, dass der oder die Mörder von Eduardo Manzarena nichts mit den Fanatikern von heute Abend zu tun haben.« Jeanne antwortete nicht. Das lag auf der Hand.
    »Kommen Sie, ich habe tamales zubereitet.«
    Sie ließen sich auf der Veranda unter den Palmen des Gartens und zwitschernden Vögeln nieder. Jeanne wunderte sich darüber, dass es vergleichsweise wenig Moskitos gab. Es war ihr schon am Vortag aufgefallen. Im Moment war dies die einzige angenehme Überraschung in diesem Land ...
    Eva Arias hatte auf einem niedrigen Tisch Tortillas, Avocados, Bananen, Quark und die berühmten tamales angerichtet. Jeanne kannte dieses Gericht: gekochtes Fleisch, das mit Mais, Tomaten und Reis in ein Bananenstaudenblatt eingeschlagen wird.
    »Bedienen Sie sich.«
    Jeanne kam der

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