Im Wald der stummen Schreie
Aufforderung nach und stellte sich einen bunt gemischten Teller zusammen. Sie wollte die schlichte Tatsache feiern, dass sie noch am Leben war. Vor gerade einmal zwei Stunden war sie von Mördern bedroht worden. Jetzt aß sie mit großem Appetit nicaraguanische Pfannkuchen. Für ihren Geschmack etwas zu viel Abwechslung.
»Ich wollte Ihnen sagen«, hob Eva Arias an, »dass die Extremisten, die Niels Agosto umgebracht haben, mit Sicherheit Guatemalteken sind: Maya. Die Maya haben ein vielschichtiges Verhältnis zu Blut. Immer wieder hieß es, im Gegensatz zu den Azteken, die regelmäßig Menschenopfer darbrachten, seien die Maya nicht gewalttätig gewesen. Aber auch die Maya kannten Menschenopfer. Sie haben ihnen das Herz herausgerissen, um es der Sonne darzubringen; sie vergossen ihr Blut, um den Durst der Erde zu stillen. Sie haben den Göttern auch ihr eigenes Blut dargebracht, im Rahmen unterschiedlicher Riten, die mehr oder minder schmerzhaft waren. Die Schmerzen, die sie sich selbst zufügten, waren ein Mittel, um mit den Göttern in Verbindung zu treten.«
»Und was hat das mit der Gegenwart zu tun?«
»Nichts, abgesehen davon, dass die Maya Blutentnahmen ablehnen, vor allem, wenn sie in industriellem Maßstab durchgeführt werden. Sie sehen darin die Entweihung einer heiligen Handlung.«
»Und was hat es mit den Worten auf sich, die der Mörder während der Tat geäußert hat: der Mann aus Holz, der Mann aus Ton, der Mann aus Mais?«
»Das ist eine Anspielung auf das heilige Buch der Maya, das Popol Vuh .«
Diese Silben weckten in Jeanne eine Erinnerung, die nichts mit der Sache zu tun hatte. Popol Vuh war der Name einer deutschen Band, die ihre Mutter Ende der siebziger Jahre gehört hatte, neben Can, Tangerine Dream, Klaus Schulze ... Sie hatte noch immer diese zum Träumen anregende, synthesizergesättigte Musik im Ohr, bei der es manchmal zu regelrechten Percussion-Orgien kam.
Jeanne versuchte, sich an ihre eigenen Kenntnisse über die Maya-Kultur zu erinnern:
»Ist das ein Codex?«
»Nein. Sie bringen die Epochen durcheinander. Die Codizes sind Bilderhandschriften aus Rindenpapier, auf die der Schreiber Motive und Symbole zeichnete. Die wenigen, die erhalten geblieben sind, stammen aus dem 12. Jahrhundert. Das Popol Vuh ist eine Handschrift, die zu Beginn der spanischen Invasion verfasst wurde. In der Quiché-Sprache, aber in lateinischen Buchstaben. Sie wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einem Dominikanermönch entdeckt.«
»Was erzählt sie?«
»Die Geschichte der Welt, die Erschaffung des Menschen. Die Götter formten zuerst einen Mann aus Lehm, doch er war zu weich und besaß weder Beweglichkeit noch Kraft. Da haben die Götter Männer aus Holz und Frauen aus Schilfrohr geschnitzt. Sie sprachen wie Menschen, hatten aber keine Seele. Da haben die Götter auch diese Figuren zerstört und vier Männer und vier Frauen aus Mais geschaffen. Aus Wasser machten sie ihr Blut. Diese Menschen waren vollkommen, zu vollkommen. Ihre Weisheit machte sie gefährlich. Da hat das Herz des Himmels Dunst in ihre Augen geblasen und ihre Weisheit verringert. So wurde der Maismensch zum Ahnen der Maya.«
»Das erklärt nicht, wieso der Mörder während der Tat ihre Namen ausgerufen hat.«
»Weil die Einfuhr von verseuchtem Blut mit der Gefahr einer Regression verbunden ist. Für die Maya sind die Männer aus Holz, die überlebt haben, Affen. Diese Fanatiker können es nicht zulassen, dass Agosto und Manzarena den Maismenschen beschmutzen. Aber, um es noch einmal zu sagen, all dies ist absurd. Denn die Nicaraguaner sind keine Maya.«
»Ich nehme an, dass Manzarena und Agosto Blutspende-Zentren in Guatemala eröffnet haben.«
»Gut möglich.«
Jeanne dachte nach. All dies brachte sie immer weiter von Joachim und seinem Motiv weg. Sie glaubte nicht, dass er die Leute, die auf seiner Liste standen, im Namen irgendeiner Reinheit der Rasse umbrachte.
»Man hat mir von großen Mengen verseuchten Blutes erzählt – tatsächlich verseuchten Blutes. Blut, das Plasma Inc. aus der Región Noreste in Argentinien importiert haben soll. Was halten Sie davon?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Plasma Inc. ist ein solides Unternehmen, das seine Konserven nach Nordamerika verkauft. Wenn ein solches Problem aufgetreten wäre, hätte Manzarena mit Sicherheit umgehend reagiert.«
Eva Arias rollte sich eine Tortilla und tunkte sie in den Quark ein. Jeanne war beim dritten tamale . Sie musste sich beruhigen, sonst
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