Im Wald der stummen Schreie
würde sie vor dem Ende des Mahls noch alles erbrechen ...
»Und Sie, Jeanne Korowa? Was haben Sie mit dieser ganzen Geschichte zu schaffen?«
Jeanne hatte den Mund voll. Das gab ihr Gelegenheit, nach einer glaubwürdigen Erklärung zu suchen.
»Wissen Sie«, fuhr Eva Arias fort, »die mittelamerikanischen Staaten haben einen Verbindungsmann in Paris, einen Freund von mir. Wir haben zusammen studiert. Ich habe mit ihm telefoniert. Er wusste über Ihre Ermittlungen Bescheid. Wenn ich ›Ihre‹ sage, dann tue ich dies aus Höflichkeit. Denn mein Freund kannte Ihren Namen nicht, und ganz offensichtlich sind Sie nicht offiziell mit diesem Fall betraut ...«
Jeanne aß ihr tamale nicht zu Ende. Jetzt musste sie der Nicaraguanerin reinen Wein einschenken.
»Ich habe in diesem Fall keine offiziellen Befugnisse, das ist richtig. Aber der Richter, der dafür zuständig war und von dem ich Ihnen erzählt habe, war ein Freund von mir. Um seinetwillen muss ich die Ermittlungen weiterführen.«
»War er Ihr Geliebter?«
»Ich habe keinen Geliebten.«
»Das dachte ich mir.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Jeannes Gesicht war rot angelaufen. Als hätte Eva Arias ein geheimes Gebrechen von ihr erwähnt.
»Jeanne, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber es ist offensichtlich, dass Sie nichts in Paris hält. Dass Sie sich in die Aufklärung dieses Verbrechens gestürzt und diese Reise unternommen haben, um Paris und Ihre Einsamkeit zu vergessen.«
»Ich glaube, dass wir hier vom Thema abschweifen.« Jeanne stand auf und sprach unvermittelt lauter: »Vor allem aber glaube ich, dass Sie das nichts angeht!«
Die Hünin lächelte. Ein vielsagendes, wohlwollendes Lächeln:
»Seien Sie nicht so empfindlich.«
»Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Eva Arias griff nach einer Avocado und öffnete sie mit einer schnellen Handbewegung.
»Aber ich habe Ihnen etwas zu sagen. Die Nicaraguaner sind von Natur aus sehr hilfsbereit. Einer der Journalisten, mit denen ich mich wegen Ihrer Kannibalen-Geschichte in Verbindung gesetzt habe, hat mich heute Nachmittag angerufen. In einem Archiv wurde er zwar nicht fündig, aber er hat Kollegen in den benachbarten Ländern angerufen: Honduras, Guatemala, Salvador ...«
Jeanne wurde kreidebleich.
»Hat er was gefunden?«
»Guatemala, 1982. Die Ermordung einer jungen Indiofrau mit eindeutigen Spuren von Anthropophagie. Das geschah in der Region von Atitlán. Sagt Ihnen das etwas? Angeblich der schönste See der Erde ... Noch so eine Prahlerei der Indios.«
1982. Das war das Jahr, das Eduardo Manzarena interessierte. Joachim musste damals etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Sein erster Mord? Aber wieso in Guatemala?
»Was wissen Sie über diesen Fall?«
»Nicht viel. Von dem Mord wurde damals kaum Notiz genommen. Kein Wunder, denn die Lage in Guatemala war vielleicht noch schlimmer als in Nicaragua. In den achtziger Jahren wurden die Indios bei lebendigem Leib verbrannt, und man stach ihnen die Augen aus, nur um ihnen eine Lektion zu erteilen. Da fällt eine zerfleischte junge Frau nicht weiter ins Gewicht ... Wenn Sie dorthin fahren, werden Sie nichts finden. Keine Archive, keine Zeugenaussagen. Nichts. Aber ich weiß, dass Sie trotzdem fahren werden ...«
Jeanne griff nach ihrer Tasche. Mit ruhigerer Stimme sagte sie:
»Jedenfalls danke für den Tipp.«
»Es gibt noch weitere Überraschungen.«
Sie blieb auf der Schwelle der Veranda stehen. Aus der Finsternis drangen gellende Schreie und das Rascheln von Blättern.
»Welche?«
»Laut Aussage des Journalisten wurde der Kannibalen-Mörder damals identifiziert.«
»Was?«
Eva Arias schwieg einen Augenblick. Jeanne hatte den Eindruck, dass ihr Herz überall in ihrem Körper schlug. In ihrer Brust, ihrer Kehle und ihren Schläfen.
»Wer war es?«
»Ein Priester.«
49
In Peru hatte ihr ein Pressefotograf einmal gesagt: »Wenn man Schwierigkeiten im Ausland hat, fällt es einem oft erst als Letztes ein, die Botschaft zu kontaktieren. Dabei ist es immer das Beste, was man tun kann.«
Jeanne hatte sich an diesen Rat erinnert. Um 20.00 Uhr in Managua ein Auto zu mieten, schien eine Mission impossible zu sein. Aber nicht, wenn einem der Kulturattaché der französischen Botschaft, ein gewisser Marc, half, den sie zufällig an den Apparat bekommen hatte, als sie eine vom Außenministerium veröffentlichte Nummer anrief. Er kannte den Geschäftsführer der örtlichen Niederlassung des Autoverleihers Budget, rief ihn an und
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