Im Wald der stummen Schreie
überredete ihn, das Büro nochmals aufzumachen.
Jeanne hatte sich überschwänglich bei dem jungen Mann bedankt, der keinerlei Fragen stellte. Jetzt war sie am Steuer eines Lancer Mitsubishi in Richtung Nordwesten unterwegs. Es würde eine lange Fahrt werden. Sie musste zuerst halb Nicaragua und dann El Salvador durchqueren, ehe sie Guatemala erreichen würde. Insgesamt eine Strecke von fast tausend Kilometern ...
Die Orientierung fiel leicht, denn es gab nur eine Straße: die Panamericana, die von Nord nach Süd durch ganz Mittelamerika führte. Eine legendenumwobene Verkehrsader, die alle Kriege, alle Revolutionen dieser kleinen Länder, in denen es ständig gärte, kommen und gehen gesehen hatte. Es war keine vier- oder achtspurige Autobahn, sondern eine schlichte Schnellstraße, die durch einen weißen Mittelstreifen geteilt wurde. Ein Band, durch den Dschungel, durch Ebenen, Berge, Felder und Elendsviertel gelegt, scheinbar unbeirrbar seinem Zweck folgend, die beiden amerikanischen Kontinente miteinander zu verbinden.
Die Nacht war schwarz. Jeanne bedauerte, dass sie nichts von der Landschaft sah. Von den rauchenden Vulkanen und ihren Kratern, den Seen und ihren perlmuttern schimmernden Oberflächen, dem gewaltigen Dschungel mit seinen verschlungenen Lianen ... Stattdessen folgte sie diesem einförmigen Asphaltband, die Hände ans Lenkrad geklammert, die Augen zusammenkneifend, wenn sie von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Fahrzeugs geblendet wurde.
Sie versuchte das Kapitel Nicaragua für sich abzuschließen. Der Ertrag war dürftig beziehungsweise gleich null. Sie hatte die Ermordung Eduardo Manzarenas nicht verhindern können – den Mord an Niels Agosto zählte sie nicht, denn er hatte nichts mit Joachim zu tun. Über diesen hatte sie nichts Neues herausgefunden. Im Grunde hatte sie nur eine einzige neue Spur entdeckt. Eine sehr vage Spur ... Der Verdacht, dass das verseuchte Blut aus Argentinien kommen könne. Ein kannibalistischer Mord, der 1982 in der Nähe des Atitlán-Sees von einem Priester begangen worden war ...
Doch sie liebte dieses Gefühl, dass alles im Fluss war. Sie verlor sich. Sie ging völlig in dieser Jagd nach dem Mörder auf. Nichts zeigte dies deutlicher als die Tatsache, dass sie beim Begleichen ihrer Hotelrechnung beinahe der Schlag getroffen hätte. Ob in Córdobas, in Dollars oder in Euros – die Rechnung war gesalzen.
Sie konzentrierte sich auf die Straße. Das Faszinierendste war das pulsierende, anarchische Leben am Rand der Panamericana: unglaubliche Geschäfte, Baracken aus Reifen und Teerpappe und dreckige Imbissstuben. Dort wurden bunt durcheinander Schwäne aus Stuck, Gartenzwerge, verchromte Stoßstangen, Riesenkürbisse und vieles andere feilgeboten. Alles vergoldet durch die elektrische Beleuchtung der Verkaufsstände, die kleinen Krippen aus Pappmaché glichen.
Jeanne sah auch verrostete Schilder, Tafeln mit religiösen Botschaften – JESUCRISTO SALVA TU ALMA! –, Werbeplakate mit unzähligen Karikaturen von Hennen oder Hähnen vorbeiziehen. Nicaragua schien von einer regelrechten Hühner-Obsession befallen zu sein. Aber vor allem überholte sie, wich aus, kreuzte sie – Lastwagen, Pick-ups, PKWs, Mofas, Karren. All dies mit Vollgas, in einer Art unerschütterlichem Elan.
Mitternacht. Die Grenze zu El Salvador. Sie hatte in vier Stunden zweihundert Kilometer zurückgelegt. Nicht schlecht, wenn man den Zustand der Straße und den Verkehr bedachte. Nun musste sie die zweite Etappe in Angriff nehmen. Den Wagen abstellen. Die Schlüssel in den Briefkasten der Budget-Niederlassung werfen. Zu Fuß die Grenze überschreiten. Sich auf salvadorianischer Seite ein neues Auto besorgen. Das war besonders nervend in Mittelamerika: Man konnte nicht in einem Wagen durch mehrere Länder fahren.
Sie reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Nachdem ihr Reisepass von der nicaraguanischen Grenzpolizei abgestempelt worden war, musste sie ein gutes Stück zu Fuß gehen, um zum salvadorianischen Kontrollpunkt zu gelangen. Sie hatte den Eindruck, durch eine Art Zwischenwelt zu laufen. Scheinwerfer beleuchteten ein Chaos aus parkenden LKWs, Bussen, die betankt wurden, Schlammpfützen, Tankstellen, Tortilla-Ständen, Sandwichverkäufern, eingenickten Rucksacktouristen, vereinzelten Geldwechslern, verstörten Tagelöhnern ...
Eine zweite Warteschlange. Ein neuer Stempel. Sie fand die Budget-Niederlassung – eine Hütte zwischen anderen, verschlossen mit einem
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