Im Wald der stummen Schreie
Rollladen aus Stahlblech. Sie klopfte: Man hatte ihr versichert, dass ein Angestellter da wäre. Es war tatsächlich einer da – schlaftrunken, taumelnd. Aber zu ihrer großen Überraschung lief alles wie gewünscht. Sie unterschrieb einen Mietvertrag, legte ihren Führerschein vor, nahm die Schlüssel entgegen und einen neuen Wagen in Besitz. Ein brandneuer RAV4 Toyota.
Marc hatte gesagt: »In El Salvador werden Sie die besten Straßen Mittelamerikas finden.« Das stimmte ... sofern sie fertiggestellt waren. Jeanne kam an dantesken Baustellen vorbei, wo Löffelbagger ganze Berge abtrugen beziehungsweise verschoben, während von überall her mit Roterde gefüllte Kippkarren auftauchten. Sie fuhr dicht an diesen Abgründen vorbei, folgte der Behelfsstrecke, erblickte Gestalten in Regenkleidung, in ärmellosen T-Shirts oder mit nacktem Oberkörper, ausgerüstet mit Hacken, Schaufeln und Kellen, Schutzmasken und gefütterten Handschuhen. Gespenster in der Finsternis, die an die Sklaverei einer anderen Epoche erinnerten ...
Auf ihrer Fahrt durch El Salvador sah sie nichts anderes. Weder San Miguel noch San Vicente, weder San Salvador noch Santa Ana ... All dies glitt unter sintflutartigen Regenfällen, die das Ende der Welt anzukündigen schienen, an ihr vorüber. Jeanne hatte das Gefühl, ein U-Boot zu steuern, das die Oberfläche suchte. Ihre Gedanken verloren sich. Sie dachte an das Blut. Das verseuchte Blut der Plasma Inc. ... Das Blut der von den Maya geopferten Menschen ... Das Blut von Niels Agosto, das durch die Finsternis spritzte ... Scharlachrote Ströme, rostbraune, breiige Flüsse, die sich neben der Straße ergossen und aus den Gräben schwappten.
Sechs Uhr morgens.
Die Grenze zu Guatemala. Die gleiche Prozedur wie bei der Einreise nach El Salvador. Sie stellte das Auto ab, passierte die Grenze zu Fuß und besorgte sich ein neues Mietauto – wieder einen Mitsubishi-Geländewagen. Bei einem zahnlosen Mann mit Schnauzbart wechselte sie ihre Dollars und ihre Córdobas in Quetzales – die guatemaltekische Währung. Bis Guatemala City waren es noch zweihundert Kilometer, dann weitere fünfzig Kilometer bis nach Antigua, der historischen Hauptstadt des Landes. Dort befand sich das Kloster des Priesters, der zum Mörder geworden war.
Als Jeanne sich wieder auf den Weg machte, prangte bereits die kupferfarbige Sonnenscheibe über dem Dschungel. Das Erste, was sie von Guatemala sah, war ein dunstverhangener Wald. Dichter silberglänzender Nebel umlagerte die Bäume. Zähe Dampfschwaden zogen durch Wipfel, Sträucher und Ebenen, die an die diesigen, verwaschenen, purpurroten Landschaften der chinesischen Malerei erinnerten.
Es war Freitag, der 13. Juni. Hoffentlich kein schlechtes Omen ... Jeanne versetzte sich in eine frühere Zeit. Sie sah Maya, Angehörige eines alten Volkes, sanftmütig, zeitlos, trotz der Geländewagen, die mit Vollgas dahinrasten. Die Männer mit farbenprächtigen Boleros und weißen Cowboyhüten. Die Frauen gingen barfuß. Jede von ihnen trug die traditionelle handgestickte Bluse, den regenbogenfarbenen huipil . Jeanne erinnerte sich, was sie darüber gelesen hatte: Dieses Kleidungsstück veranschaulichte die Kosmogonie der Maya. Eine von zahllosen Göttern bevölkerte Welt, in der sich ein bestimmter Kreislauf ständig wiederholte.
Unwillkürlich fuhr Jeanne langsamer, um ihre Gesichter zu betrachten. Aus dem, was sie sah, schöpfte sie einen leichten Trost. Diese Menschen befanden sich nicht in der Landschaft, sie waren die Landschaft. Ihre goldbraunen Gesichter waren wie poliert durch die jahrtausendelange Einwirkung von Sonne und Regen, von Windstille und Zyklonen, die sie nach dem Bild ihrer Legenden geformt hatten. Die Maismenschen ... flüsterte sie.
Gegen Mittag erreichte Jeanne Guatemala City. Wieder goss es in Strömen. Die Stadt zeigte sich unverschleiert, wie ein Krieger seine Narben zur Schau stellt. Eine chaotische Verstädterung. Ein zersiedelter Ballungsraum, der im Rhythmus massiver Zuwanderungswellen, die ihrerseits durch Erdbeben, Zyklone und Überschwemmungen ausgelöst wurden, in einem fort planlos weiterwucherte. Eine aufgedunsene, chaotische, feuchte Kapitale ...
Sie fuhr in ein Schlammloch hinein. Versuchte sich zu orientieren. Vergeblich. Man wusste nicht mehr, ob der Schlamm vom Himmel fiel oder aus der Erde hervorquoll. Jeanne musste immer wieder an einen Satz denken, den Georges Arnaud seinem Werk Lohn der Angst vorangestellt hatte. Ein Satz, der sie
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