Im Wald der stummen Schreie
ergriffen hatte wie wenige andere: »Man möge in diesem Buch nicht jene geografische Genauigkeit suchen, die immer nur eine Illusion ist: Guatemala zum Beispiel gibt es nicht. Ich weiß es, denn ich habe dort gelebt.« Genau dieses Gefühl hatte sie im Moment. Keine Stadt, kein Land. Nur eine Hölle. Eine Art Schmelze aus Menschen, Elend und Schmutz, aus der sich vielleicht eines Tages etwas Brauchbares machen ließ, die sich aber einstweilen noch im Stadium des Magmas befand ...
Sie war erleichtert, als sie die Straße Richtung Hochland fand. Sie assoziierte damit Vorstellungen von »frischer Luft« und »Reinigung« ... Innerhalb weniger Kilometer veränderte sich die Landschaft vollkommen. Aus der in Schlamm und Morast versinkenden Ebene gelangte sie in eine Gebirgsregion mit Tannenwäldern, fernen Gipfeln und wohltuender Frische – und manchmal auch einer tropischen Üppigkeit, die plötzlich auftauchte, wie um daran zu erinnern, wo man sich befand ...
Um 14.00 Uhr erreichte Jeanne Antigua. Guatemala City war eine Hölle. Antigua dagegen war das »grüne Paradies der kindlichen Liebe«. Eine gut erhaltene alte Stadt, die im 17. Jahrhundert die Kapitale ganz Mittelamerikas gewesen war. Hier wurde man zwei- bis dreihundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Kein modernes Gebäude. Kein mehrstöckiges Gebäude. Gepflasterte Straßen, auf denen nur ganz vereinzelte Autos im Schritttempo fuhren. Dafür aber überall Kirchen, die sämtliche Stile und Epochen durchdeklinierten – weiße, gelbe und rote, barocke und klassizistische Kirchen, die die strengen Linien einer Hacienda oder, im Gegenteil, die überladene Bühnendekoration einer mexikanischen Operette zur Schau trugen.
Noch immer zogen tief hängende Regenwolken über den Himmel. Die Stadt schien in der düsteren Stimmung, die die Vulkane ringsumher ausstrahlten, gleichsam zu ertrinken. Dieser triste, quecksilberfarbene Himmel passte nicht zu der sonnigen Architektur der Kirchen und den blau, rosa oder malvenfarben gestrichenen Häusern. Die Straßen wiederum waren so geradlinig, dass sie an Blockflöten erinnerten, die Melodien aus Blumen und Farben spielten.
Jeanne gelangte auf die Plaza Mayor.
Schachbrettartig angepflanzte Bäume, überdachte Galerien, schmiedeeiserne Verzierungen an jedem Fenster – jetzt musste nur noch Zorro von einem der Balkone herunterspringen, die dicht mit Rosen und Lorbeerblättern geschmückt waren. Jeanne warf einen Blick auf ihren Stadtplan und begriff das System. Die avenidas durchschnitten die Stadt von Nord nach Süd, während die calles sie von West nach Ost durchzogen ... Sie entdeckte auf Anhieb die Kirche, die sie suchte: die Iglesia y Convento de Nuestra Señora de la Merced. Hier hatte sich Pierre Roberge aufgehalten, der Priester aus Belgien. Eva Arias hatte ihr berichtet, dass er ein sechzehnjähriges Indiomädchen mit bloßen Zähnen zerfleischt hatte.
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Architektonisch gesehen war die Iglesia y Convento de Nuestra Señora de la Merced ein Mittelding zwischen einem nüchternen romanischen und einem verspielten barocken Bauwerk. Im Kern war es ein solides Gebäude mit dicken Mauern. Nach außen hin glich es einem fein ziselierten Schmuckstück, mit spiraligen Säulen, ockerfarbenem Dach, Fassadenfiguren und -malereien, die Renaissance-Engelchen mit Maya-Motiven verknüpften.
Jeanne stellte ihren Wagen auf dem Kirchenvorplatz ab. Indiofrauen näherten sich mit ihrem Plunder, ihren Halsketten und Schlüsseletuis. Alle hatten ein Baby auf dem Arm. Jeanne bedeutete ihnen, dass sie kein Interesse habe. Sie lächelte. Sie war schmutzig, erschöpft, und ihr Haar war ganz zerzaust, aber sie fühlte sich stark, entschlossen, wagemutig.
Sie schlüpfte durch das Portal. Im Innern glich die Kirche einem Bunker aus nacktem Beton. Die Mauern waren mehrere Meter dick, die Steinplatten rau wie Felsen. Das Bauwerk verriet hier seine wahre Bestimmung: den Kampf. Die Kirche war ursprünglich eine Festung gewesen. Eines dieser Bollwerke, die mitten im Dschungel errichtet worden waren, um den Indios, dem Klima, den Heiden zu trotzen ...
Unter dem hohen Gewölbe ging Jeanne nach rechts, in Richtung des Klosters. Laut Eva Arias lebte dort nur noch eine Gruppe belgischer Jesuiten: Brüder vom Maison Saint Ignace.
Im Innenhof, dessen Weitläufigkeit an eine antike Arena erinnerte, verstärkte sich der Eindruck der Strenge und Härte noch: Mauern, von denen stellenweise der Putz abgebröckelt war, sodass die
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