Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
Backsteine wie Wunden zum Vorschein kamen, kreideweiße Gewölbegänge, verzierte Pflastersteine, zwischen denen Grasbüschel wuchsen, und in der Mitte ein Brunnen ohne Wasser.
    Ein Indio schob eine Karre vorbei. Jeanne winkte ihm zu und erklärte, mit dem Jesuiten sprechen zu wollen, den sie unterwegs angerufen hatte: Bruder Domitien. Der Maya-Mann verschwand. Sie wartete geduldig unter dem Gewölbe und atmete den in der frischen Luft schwebenden Geruch von altem Gemäuer und Efeu ein.
    »Wir können Ihnen nicht helfen.«
    Ein beleibter junger Mann löste sich aus den schrägen Schatten der Säulen. Er hatte ein nichtssagendes Gesicht, dessen Ausdruckslosigkeit durch die blonden Haare und Brauen noch verstärkt wurde. Bei seinem Anblick musste Jeanne an eine weiße Kerze denken, die geschmolzen und zerlaufen war und nach dem Erstarren zufällig eine Figur ergeben hatte.
    Er hatte den Satz auf Französisch gesprochen, was ihr ermutigend erschienen war. Für den Inhalt des Satzes galt dies nicht.
    Aber Jeanne ließ sich nicht verunsichern:
    »Sie wissen doch gar nicht, was mich hierherführt.«
    »Am Telefon haben Sie mir gesagt, dass Sie Ermittlungsrichterin sind. Wir haben nichts mit der Justiz zu schaffen. Und schon gar nicht mit der französischen Justiz.«
    »Hören Sie mich doch erst einmal an.«
    »Sparen Sie sich die Mühe. In diesem Kloster lebt nur eine Handvoll Mönche. Wir kämpfen hier mit unseren Waffen. Für das materielle Wohl und das Seelenheil der Bauern. Wir haben nicht das Geringste mit irgendwelchen Verbrechen zu tun.«
    »Trotzdem wurde hier vor langer Zeit ein Verbrechen verübt.«
    »Darum also geht es.«
    Bruder Domitien sah Jeanne mitleidig an.
    »Zwanzig Jahre später kommen Sie, um diese alte Geschichte aufzurühren.«
    »Und warum nicht?«
    »Pierre Roberge hat alles in allem nur einige Stunden in Antigua verbracht. Er ist gleich weitergereist zu der Missionsstation, die sein eigentliches Ziel war. Ein Waisenhaus am Atitlán-See.«
    »Woher kam er? Aus Belgien?«
    »Nein, aus Argentinien, der Region Noreste , um genauer zu sein.«
    Damit war eine erste Verbindung zwischen Mittelamerika und Argentinien gegeben. Der Brief von Niels Agosto, der sich im Dschungel von Nordost-Argentinien verirrt hatte. Hatte sich Roberge dort mit der Krankheit angesteckt? Jeanne spürte, wie ihr Herz pochte. Sie würde ihre erste brauchbare Spur nicht so ohne Weiteres fallen lassen.
    »Was wissen Sie über ihn?«
    »Damals war ich noch nicht hier. Ich bin neunundzwanzig. Meine Superioren haben es mir erzählt. Sie haben es bedauert, ihn hier in Guatemala eingesetzt zu haben. Aber unser Orden hat große Nachwuchsprobleme. Und wir hatten keine anderen erfahrenen Kandidaten. Die Unterdrückung war damals schrecklich. Die Ladino s brachten Priester um, verstehen Sie? Und Roberge war ein robuster Kerl. Auf so jemanden konnte man nicht verzichten, auch wenn, wie sich später zeigte, seine Gründe alles andere als edel waren.«
    »Was für Gründe?«
    »Es hieß, er wäre geflohen. Er hatte schon damals einen schlechten Ruf.«
    »Was verstehen Sie unter einem ›schlechten Ruf‹?«
    Der Jesuit fuchtelte mit seinen fleischigen Händen herum.
    »Gerüchte. Bloße Gerüchte.«
    »Was für Gerüchte?«
    Domitien wich Jeannes Blick aus.
    »Was für Gerüchte?«
    »Es hieß, ein Dämon begleite ihn.«
    »War er besessen?«
    »Nein, etwas anderes. Ein Kind ... Ein Kind begleitete ihn.«
    »Ein Waisenkind?«
    Der Jesuit warf verzweifelte Blicke durch den Innenhof. Er schien auf einen Besucher, ein Gewitter, irgendetwas zu hoffen, was ihn aus dieser Situation erlösen würde.
    »Verstehen Sie denn nicht?«, sagte er plötzlich gereizt.
    »Wollen Sie sagen, dass es sein Kind war?«
    Beredtes Schweigen des Geistlichen. Darauf war Jeanne nicht gefasst gewesen. Aber sie fasste sich rasch wieder. Und wagte im Geiste folgende Hypothese: Konnte es sich bei dem alten Spanier in Férauds Praxis um Roberge gehandelt haben? Sie hörte wieder seine Stimme: »In meiner Heimat war das eine weit verbreitete Praxis. Alle taten das.« Ein Priester, der mit seinen Schäfchen schlief?
    Bestimmte Elemente passten ins Bild: ein Geheimnis zwischen einem Vater und seinem Sohn, Joachims Gefühl, von seinem Vater abgelehnt zu werden, ein ungewolltes Kind, das an Autismus erkrankte ... Aber andere Details passten überhaupt nicht: Der alte Mann bei Féraud sprach mit spanischem Akzent. Roberge war gebürtiger Belgier. Lag das vielleicht an seinem

Weitere Kostenlose Bücher