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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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durch den Kopf.«
    Jeanne spürte einen Schmerz im Bauch. Ein Feuerpfeil, der sie durchzuckte. Diese Neuigkeit. Das Unwohlsein, das endlich zum Ausbruch kam ... Zuerst verschwamm ihr alles vor den Augen, dann wurde ihr schwarz ... dann ...
    Rosa Maria beugte sich mit einem Glas in der Hand zu ihr herab. Es enthielt eine dickflüssige, farblose Mixtur.
    »Was ... was war los?«, stammelte Jeanne.
    »Du bist ohnmächtig geworden, hijita. «
    »Tut mir leid. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren.«
    Jeanne stützte sich mit einem Ellbogen vom Boden ab. Sie war der Länge nach unter eine Ausgrabungsplane gefallen. Durch ihre Jacke spürte sie die Kühle der feuchten Erde.
    »Trink das!«, forderte Rosa Maria sie auf und hielt ihr das Glas hin.
    »Was ist das?«
    » Atol. Maispaste, mit Wasser, Milch, Salz und Zucker aufgekocht. Als erste Stärkung. Dann gehen wir etwas essen ...«
    »Nein ... ich muss los.«
    »Wohin?«
    »Nach Atitlán.«
    »Sonst noch was! Was willst du dort machen?«
    Jeanne stand mühsam auf und setzte sich an einen der Tische, um die Mixtur zu trinken. Sie glaubte sich übergeben zu müssen. Aber nein. Sie konzentrierte sich auf die kleinen Haufen aus Steinen und Keramikscherben vor ihr. Endlich fühlte sie sich besser.
    »Ich werde dir sagen, was du dort tun wirst«, raunzte Rosa Maria. »Du wirst einen Mann namens Hansel aufsuchen. Einen reinrassigen Indio. Einen zwielichtigen Typen. Er treibt Schwarzhandel mit Fundstücken aus präkolumbischer Zeit. Er organisiert Raubgrabungen an unerschlossenen historischen Stätten in der Region Petén.«
    Jeanne sah sich um. Das Gebräu wirkte. Das graue Licht, die Löcher im Boden, die Plastikplanen – all dies sah sie jetzt mit anderen Augen. Als ob die Erde selbst eine neue Kraft verströmte.
    »Was soll ich bei diesem Mann?«
    »Er stand Roberge sehr nahe. Frag mich nicht, wieso! Der Raubgräber und der Priester bildeten ein seltsames Gespann ... Aber wenn du wirklich Genaueres über diese Geschichte wissen willst, dann musst du mit ihm reden ...«
    Sie wollte aufstehen. Doch Rosa Maria drückte ihr die Hand auf die Schulter, damit sie sitzen blieb.
    »In diesem Zustand fährst du mir nicht! Hast du ein Auto?«
    Jeanne nickte.
    »Ich werde dir meinen Fahrer ausleihen, Nicolás. Einen Ladino. Einen Caxlano. Um an einen Typen wie Hansel heranzukommen, brauchst du sowieso einen Mittelsmann.«
    Wie benommen nickte Jeanne ein weiteres Mal mit dem Kopf. Sie fühlte sich matt, schwach, von der Rolle ... Und zugleich, in gewisser Weise, wiedergeboren.
    »Was ist ein Ladino?«, stammelte sie.
    Rosa Maria spuckte aus.
    »Das übelste Gesindel, das die Erde ausgebrütet hat. Fünfzig Prozent Indio, fünfzig Prozent Spanier, hundet Prozent Dreckskerl. Man muss sich immer vor seiner eigenen Rasse hüten. Die Ladino s unterdrücken die Indios schon seit Jahrhunderten. Und auf ihr Konto gehen die schlimmsten Übergriffe. Sie haben den Bauern ihre Grundstücke weggenommen ...« Sie spuckte noch einmal aus. »Es sind Diebe, Vergewaltiger und Mörder!«
    Jeanne musste lächeln.
    »Und so jemanden bieten Sie mir als Chauffeur an?«
    In diesem Moment erschien ein etwa dreißigjähriger, hochgewachsener, schlaksiger Mann mit fahlem Teint und Glatze. Er war gekleidet wie ein nordamerikanischer Student. Bügelfaltenhose über Puma-Schuhen, hellbraune Daunenjacke, ein grünes Sweatshirt mit der Aufschrift »Harvard University«.
    »Das ist Nicolás. Er tut alles, um wie ein Gringo auszusehen, aber in seinem Herzen ist er ein wahrer Kekchi!«
    »Ein Kekchi?«
    »Eine der Ethnien, die am See leben, dem schönsten See der Welt, chiquita ! Seit dreitausend Jahren von den Maya besiedelt. Niemand konnte daran etwas ändern. Weder die Jesuiten noch die Evangelikalen noch die Ladinos und ihre Blutbäder.« Sie zwinkerte Jeanne zu. »Wenn du etwas findest, dann auf dem Grund dieses Kratersees!«

 
    52
    Jeanne hatte sich geirrt: Antigua lag noch nicht im Hochland. Die altas tierras begannen jenseits, weit jenseits der Stadt. Und das Hochland war auch weit höher und kälter, als sie erwartet hatte. Jetzt schlotterte sie im Auto und schwor sich, in Atitlán einen Pullover, ein Schultertuch oder irgendein anderes Kleidungsstück zu kaufen, mit dem sie diesen polaren Temperaturen trotzen könnte. Damit hatte sie in den Tropen nun wirklich nicht gerechnet.
    Auf den Beifahrersitz gekauert, betrachtete sie die Landschaft. Streifen von Mischwald erstreckten sich über die Flanken der Vulkane

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