Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
langjährigen Aufenthalt in Lateinamerika? Nein. Zudem war Roberge laut Aussage von Eva Arias damals schon sechzig Jahre alt gewesen. Dann würde er heute fast neunzig sein.
    Sie beschloss, ganz von vorn zu beginnen:
    »War das Kind ein Junge oder ein Mädchen?«
    »Ein Junge.«
    »Kennen Sie seinen Vornamen?«
    »Nein.«
    »Wie alt war er?«
    »Ich weiß es nicht genau. Etwa zehn, glaube ich. Ich sage es noch einmal: Sie sind nicht in Antigua geblieben. Sie sind dorthin gegangen, wo es wirklich brodelte. Im Übrigen hat Roberge dort unten gute Arbeit gemacht. Das muss man zugeben. Er hat in der Missionsstation viele Hilfsbedürftige aufgenommen. Er widersetzte sich dem Militär ...«
    »Wieso haben Sie von einem Dämon gesprochen? War das Kind von einem Geist besessen?«
    »Hören Sie, ich weiß es nicht. Es kursierten viele Gerüchte. Ja, es hieß, das Kind sei von einem bösen Geist besessen. Hinzu kamen abergläubische Vorstellungen der Maya. Am häufigsten war zu hören, Pierre Roberge stehe unter dem Einfluss des Kindes. Der Mord hat bewiesen, dass dieses Gerede vielleicht einen wahren Kern hatte ...«
    »Was ist danach passiert? Wurde Roberge verurteilt?«
    Der Jesuit schüttelte den Kopf. Das war keine Antwort auf die Frage, sondern auf die Situation. Er wollte nichts mehr sagen. Das Gespräch war beendet. Jeanne rührte sich nicht vom Fleck.
    »Wenn Sie Genaueres über diese Angelegenheit wissen wollen«, sagte der Mann mit matter Stimme, »müssen Sie sich an jemanden wenden, der damals dort unten war. Sie kann Ihnen mehr über Roberge erzählen.«
    »›Sie‹?«
    » Rosa Maria Ibañez. Eine Archäologin, die Roberge sehr nahestand.«
    »Wo kann ich sie finden?«
    »Hier in Antigua. Sie führt Grabungen im Viertel Calle Oriente durch. Ich zeichne es Ihnen auf. Es ist nicht weit.«
    Der Geistliche nahm den Notizblock und den Filzstift von Jeanne. Offenkundig war er nur allzu erleichtert darüber, den ungebetenen Gast endlich loszuwerden. Sein bleiches Gesicht glänzte von Schweiß.
    »Und über den Mord, die zerfleischte Indiofrau, können Sie auch nichts sagen?«, versuchte sie es noch einmal.
    Domitien gab ihr den Block zurück.
    »Die Kirche San Pedro. Rosa Maria Ibañez . Sie arbeitet in den Ruinen des Klosters, hinter der Kirche.«

 
    51
    »Sein Sohn? Ay, dios mío! Niemals.«
    Rosa Maria Ibañez glich einer Obdachlosen. Die Maya-Frau hatte ein völlig zerknittertes Gesicht. Ihr strohiges Haar erinnerte an die Fasern einer Kokosnuss. Dunkle Ringe um die Augen, eine Stumpfnase, fleischige Lippen. Wahrlich keine Schönheit. Sie trug einen abgewetzten Anorak, eine viel zu weite Levis 501 und rote Holzschuhe.
    Energisch schüttelte sie den Kopf.
    »Ich habe Roberge gut gekannt. Er war die Sittenstrenge in Person. Irgendwelche Frauengeschichten – völlig undenkbar.«
    Ihr gedrängtes, abgekürztes Spanisch war beinahe unverständlich. Statt muy bien sagte sie muy bié und s'día statt buenos días .
    »Haben Sie das Kind gekannt?«
    »Juan? Natürlich.«
    Jeanne machte sich Notizen. »Juan« und nicht »Joachim«. Hatte sie sich in der Identität des Jungen geirrt?
    »Wie war er?«
    »Sehr hübsch.«
    »Wie alt war er?«
    »Etwa zehn, glaube ich.«
    »Hatte er ein Problem mit den Händen?«
    »Nein. Was für ein Problem?«
    »Vergessen wir das. Weshalb hatte Roberge ihn nach Guatemala mitgebracht?«
    »Juan hatte psychische Probleme. Roberge wollte ihn nicht in einem Kinderheim in Formosa, Argentinien, zurücklassen.«
    »Was für psychische Probleme?«
    »Eine Art Autismus. Genaueres kam nie heraus.«
    »War er vielleicht ... besessen?«
    Rosa Maria machte mit ihren dicken Lippen ein Pups-Geräusch. Sehr vornehm.
    »Ammenmärchen von Bauern! Autismus jagt den Leuten Angst ein. Traditionell glaubt man, Autisten seien von bösen Geistern besessen. Vor allem hier, wo man immer sehr schnell mit Gott oder dem Teufel bei der Hand ist.«
    Auf einem großen Bruchstein sitzend, machte Jeanne sich eifrig Notizen. Die beiden Frauen hatten sich in einer Ecke der Grabungsstelle niedergelassen. Diese glich einer Baustelle – ohne Bau. Überall waren Löcher, Schutt, ausgegrabene Mauerstücke. Gelbe Absperrbänder. Schubkarren, Schaufeln, Plastikplanen, die überall auf dem Gelände ausgelegt waren, um die Ausgrabungen und Funde vor den Regengüssen zu schützen.
    Jeanne hörte auf zu schreiben. Ihr war schwindelig geworden. Hunger. Übermüdung. Oder noch immer der Jetlag ...
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Rosa

Weitere Kostenlose Bücher