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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Maria, sich zu ihr niederbeugend – ihr Atem stank nach Rum.
    »Geht schon.«
    »Willst du einen Kaffee?«, fragte die Frau, zum »Du« wechselnd.
    »Nein, danke.«
    Vor ihr stehend, stemmte die Archäologin ihre beiden Hände in die Hüften.
    »Es ist der Beste der Welt.«
    Eva Arias hatte sie gewarnt: Die Maya verstanden keinen Spaß mit Dingen, die ihren Nationalstolz berührten.
    »Einverstanden.«
    »Komm mit.«
    Sie stapften vorsichtig zwischen den Plastikbändern, den Planen und Löchern hindurch zu einem Grabungsschuppen, wo sich auf Brettern, die auf Gerüstböcken lagen, kleine Steinhaufen aneinanderreihten. Rechts ein Kocher, eine Kaffeemühle. Rosa Maria machte sich an die Arbeit.
    Jeanne nahm hinter einem der Tische Platz. Die Müdigkeit stieg in ihr an wie die zurückgestaute Flüssigkeit in einem zu schmalen Kanal. Machtvoll, ekelerregend, erstickend. Sie fühlte sich immer elender.
    Rosa Maria servierte den Kaffee. Ein bitterer Geruch von gebrannter Erde stieg in die Luft. Allein der Gedanke, dieses Gebräu zu trinken, schnürte Jeanne die Kehle zu.
    »Ich werde dir ein Foto zeigen«, sagte die Archäologin, während sie sich an einem Stahlschrank zu schaffen machte.
    Rosa Maria legte ihr einen verwaschenen Schwarzweißabzug vor, auf dem man sie, etwas vorzeigbarer, neben einem etwa sechzigjährigen Mann sah, der ein wallendes weißes Hemd nach Art einer indischen Kurta trug. Nichts verriet seinen Status als Geistlichen, einmal abgesehen von einem goldenen Kreuz an seinem Hals.
    Jeanne beugte sich herab, um das Foto genauer zu betrachten. Sie hatte geglaubt, die Aufnahme wäre überbelichtet oder verstaubt, aber das Gesicht von Pierre Roberge selbst war wie von Staub überzogen. Aschgraue Haut, fahle Haare und Brauen. Die hellen, glänzenden Augen waren die einzigen »Wasserstellen« in dieser von Rissen und Spalten durchzogenen, lebensfeindlichen Wüste. Sie dachte an die Styliten, die Eremiten, die in den ersten Jahrhunderten nach Christus in Wüsten lebten.
    »Haben Sie keine Fotos von Juan?«
    »Nein, er wollte sich nicht fotografieren lassen.«
    »Warum?«
    »Er hatte Angst. Juan hatte vor allem und jedem Angst. Wissen Sie etwas über Autismus?«
    »Ein wenig.«
    »Im günstigsten Fall existiert die Außenwelt für ein autistisches Kind nicht. Im schlimmsten Fall wird sie als Bedrohung erlebt. Niemand durfte das Zimmer betreten, in dem Juan schlief. Jeder Gegenstand hatte seinen festen Platz.«
    »Kümmerte sich Roberge um ihn, um seine Erziehung?«
    »Das war seine Passion. Und er hatte Erfolge. Er hoffte, aus Juan ein sozusagen ›normales‹ Kind zu machen. Ein Kind, das eine Ausbildung machen könnte.«
    Jeanne betrachtete noch immer das Foto.
    »Waren Sie hier, als der Mord geschah?«
    »Nein, ich leitete Ausgrabungen in Sololá, einer Stadt am See. Roberge hielt sich in Panajachel auf. Als ich von dem Drama hörte, bin ich sofort hergekommen.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Ich konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Er war schon verhaftet worden.«
    »Erinnern Sie sich an die Indizien, die ihn belasteten?«
    »Es gab keine Indizien. Er hat sich gestellt.«
    »Er hat den Mord gestanden?«
    »Lang und breit.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Er wurde freigelassen – aus Mangel an Beweisen. Selbst hier, in Guatemala, genügt ein Geständnis nicht immer. Die Polizei hat bemerkt, dass er Märchen auftischte.«
    Jeanne war erstaunt, dass sich die Polizei nicht mit dem Geständnis begnügt hatte. In einem Land wie diesem hätte zur damaligen Zeit eine solche Erklärung als Beweis ausreichen müssen.
    Rosa Maria erriet Jeannes Gedanken:
    »Die Polizei von Atitlán machte normalerweise nicht viel Federlesens. In einem anderen Fall hätten sie den Täter sein Geständnis unterschreiben lassen und ihn noch am selben Tag hingerichtet. Aber Roberge war Belgier. Und es hatte schon ein Problem mit einem britischen Priester gegeben, der einige Monate zuvor exekutiert worden war. Ich glaube, es gab Anweisung aus Guatemala City, sich gegenüber den Gringos etwas zurückzuhalten.«
    »Hat Roberge sein früheres Leben fortgesetzt?«
    Die Archäologin hielt ihre Tasse mit beiden Händen. Ihre Finger ragten kaum aus den Ärmeln ihres Anoraks heraus.
    Sie lachte heiser und entblößte dabei Zähne, die kreuz und quer im Mund standen.
    » No, mujer, no ... Du weißt wirklich nichts über diesen Fall! Nachdem Roberge das Polizeirevier verlassen hatte, kehrte er in die Missionsstation zurück und jagte sich eine Kugel

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