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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nehmen. Damals gab es mehrere Expeditionen dieser Art in der Gegend von Tikal. Er hat Genehmigungen vorgelegt. Er hat behauptet, er hätte mir die Stücke anvertraut, weil er befürchtete, dass sie ihm in der Krankenstation gestohlen würden. Die Milizionäre haben ihm kein Wort geglaubt, aber Roberge ließ durchblicken, dass er sie nicht anzeigen würde – obwohl sie die Flachreliefs behalten hatten. Alles lief genau so wie in dem französischen Roman, in dem ein Sträfling einen Pfarrer bestiehlt, der ihn bei sich aufgenommen hat ...«
    »Die Elenden.«
    »Ja genau, Die Elenden. «
    »Und danach?«
    »Und danach waren wir unzertrennlich.«
    »Erinnern Sie sich an das Kind?«
    »Aber natürlich! Seine schwarze Seele. Ein echter Satan.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass er autistisch war?«
    Hansel spuckte zwischen die Reifen.
    »Von wegen autistisch! Das war der Teufel in Person.«
    Da war er wieder, der alte Aberglaube.
    »Hat einem nie in die Augen gesehen«, fuhr der Plünderer fort. »Ein falscher Fuffziger. Selbst Roberge misstraute ihm. Er befürchtete immer, dass er irgendetwas Grauenhaftes anstellen würde. Manchmal sprachen wir darüber. Er meinte, der Junge sei ihm von Gott gesandt worden. Ich hätte eher das Gegenteil vermutet: Dieser Bastard war ihm vom Teufel anvertraut worden.«
    »Hat er nie etwas Näheres über die Herkunft des Jungen gesagt?«
    »Nein.« Der Mann strich sich über sein schlecht rasiertes Kinn. »Aber das war seltsam ...«
    »Was war seltsam?«
    »Roberge fürchtete, dass ihm der Junge weggenommen werden könnte ... Er war immer auf der Hut. Aber wer hätte ihm schon einen solchen Dreckskerl nehmen sollen?«
    Jeanne wagte es nicht, ihren Notizblock auszupacken.
    »Worin zeigte sich seine Bösartigkeit?«
    Der andere zuckte mit den Schultern – er nahm die Hände nicht aus seinen Taschen.
    »Er blieb immer in seinem Kabuff, das er nur nachts verließ. Ein echter Vampir. Eines Tages sagte mir Roberge, er könne im Dunkeln sehen.«
    »Erinnern Sie sich, ob er ein Problem mit den Händen hatte?«
    »Und ob! Eines Tages habe ich einen seiner Anfälle miterlebt. Er wälzte sich auf dem Boden. Er brüllte wie ein Jaguar. Plötzlich verdrückte er sich im Pfahlwerk einer Baracke. Er krabbelte sehr flink auf allen vieren, die Hände völlig verdreht. Ein Scheiß-Makak!«
    Das erste konkrete Indiz, das die Vergangenheit mit der Gegenwart verband. Das bösartige Kind von 1982, der Kannibalen-Mörder von heute.
    »Erzählen Sie mir von dem Mord an dem Indio-Mädchen.«
    »Ich erinnere mich nicht mehr an das Datum.«
    »Vergessen wir das Datum.«
    »Das Mädchen lebte in der Nähe von Santa Catarina Palopó, einer Ortschaft am See. Was genau passiert ist, wurde nie geklärt, aber als man sie gefunden hat, war die Leiche zerstückelt und zur Hälfte aufgefressen.«
    »Hat Pierre Roberge mit Ihnen über den Mord gesprochen?«
    »Nein, ich habe später erfahren, dass er sich der Tat bezichtigte.«
    »Was glauben Sie?«
    Hansel spuckte wieder aus. Ersatzteile, Stoßstangen und Nummernschilder hingen um ihn herum an der Wand oder lagen auf Regalen. Im Widerschein der Glühbirne schimmerten diese Objekte mattgolden – man hätte meinen können, dass es sich um einzigartige Wertgegenstände handelte.
    »Das ist Unsinn. Roberge hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können.«
    »Weshalb hat er sich dann bezichtigt?«
    »Um seinen Dämon zu decken.«
    »Dann glauben Sie, dass Joachim die junge Frau getötet hat?«
    »Was für ein Joachim? Der Junge hieß Juan.«
    Jeanne hatte unbewusst die beiden Vornamen vertauscht. Ungeachtet dieses Unterschieds wusste sie – spürte sie –, dass es sich um dasselbe Kind handelte.
    »Juan«, murmelte sie, »entschuldigen Sie. Was macht Sie so sicher, dass er der Täter war?«
    »Er machte grauenhafte Sachen. Einmal erwischte man ihn im Hühnerstall, wie er das Blut der Tiere trank und sie bei lebendigem Leib auffraß. Ein echtes Monster.«
    Jeanne war dem Mörder auf der Spur. Sie empfand seine Nähe geradezu körperlich ... Kurz erinnerte sie sich, was nach dem Mord geschehen war. Die Freilassung von Roberge. Sein Selbstmord. Ein Detail beschäftigte sie.
    »Man hat mir gesagt, er hätte sich mit einer Schusswaffe das Leben genommen. Wo hat er sich diese beschafft?«
    Hansel lachte laut auf.
    »Sie wissen offensichtlich nicht, wie es damals hier zuging. Es herrschte Krieg, Se-ño-ri-ta. « Er betonte die letzten Silben, um die Naivität Jeannes zu unterstreichen.

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