Im Wald der stummen Schreie
sich zu wärmen, indem sie sich kräftig trockenrieb. Draußen kreischten Papageien. Ihr Geschrei begleitete ihre Waschungen.
Jeanne betrachtete sich im Spiegel. Sie fand sich nicht unansehnlich. Ganz und gar nicht. Ihr rosiger Teint war zurückgekehrt. Sie dachte an Julianne Moore. Die Erinnerung an eine Szene aus Short Cuts , dem Film von Robert Altman, in dem die von Moore verkörperte Schauspielerin sich lauthals mit ihrem Mann stritt, während sie mit entblößter Scham ihren Rock bügelte. Mit dem zeitlichen Abstand begriff sie, wie schön diese Szene war, die sie damals schockiert hatte. Und auch, wie schön sie selbst war. Die Farbe ihrer Haut, der rötliche Schimmer ihrer Haare: Sie schienen direkt dem impressionistischen Licht entsprungen zu sein. Wenn sie Auguste Renoir gekannt hätte ... Ihre Gedanken überschlugen sich. Das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Absinth. Thomas ...
In einer plötzlichen Anwandlung von Selbstbewusstsein sagte sie sich, dass sie ihn haben, jederzeit mit ihm ins Bett steigen konnte. Aber sie wollte nicht mehr. Ein weiterer Schnitt. Antoine Féraud. Auch an ihn hatte sie nicht mehr gedacht ... War er in Nicaragua geblieben? Hatte er seine Nachforschungen eingestellt und war nach Paris zurückgekehrt? Oder war er ...
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Bürstete sich das Haar. Cremte sich ein. Zog sich an. Zum ersten Mal seit dem Morgen war ihr heiß in diesem winzigen Bad, das von der Feuchtigkeit und Wärme ihres eigenen Körpers erfüllt war. Ihre Übelkeit verging. Sie war allein. Sie hatte Angst. Aber merkwürdigerweise fühlte sie sich nicht so verwundbar wie in Paris. Keine Migräne. Keine Panikattacken. Sie bemerkte auch, dass sie keine Trevilor mehr nahm. Sie begab sich wirklich in Gefahr. Und in gewisser Weise war das gut so.
Jeanne ging hinunter in den Speisesaal. Keine Menschenseele. Sie setzte sich an einen Tisch auf der Glasveranda, die auf den See ging. Draußen war nichts zu sehen. Das allzu helle Licht im Innern machte die Landschaft unsichtbar. Holztische. Kerzen, die in schwarzen Flaschen steckten. Ein gelblicher Rauputz an der Wand. Alles ziemlich trostlos.
Auf gut Glück wählte sie ein Gericht, dessen Name wörtlich »mit schwarzer Füllung« bedeutete. Darauf wurden Hähnchenstücke aufgetragen, die in einer pikanten Soße schwammen und mit gebratenen Zwiebeln, eingelegtem Schweinegeschnetzelten und Eiweiß garniert waren. Als Beilage gab es Reis. Sie zwang sich zum Essen. Es war scharf, es war fettig, mit einem bitteren Nachgeschmack nach Erde und Wurzeln. Dieser Geschmack rief ihr die Stimme des Mannes mit der Flammen-Tätowierung in Erinnerung: »Für den Mann aus Mais!« Und ihr Appetit verflog.
»Schmeckt es dir?«
Jeanne erschrak. Nicolás stand neben ihr.
»Ich versuche mich zu stärken.«
»Du weißt, was wir heute Nacht tun werden, oder? Du weißt, was das für einen Indio bedeutet?«
Jeanne zuckte mit den Schultern, als sei es ihr gleichgültig. Er deutete diese Geste als Ausdruck der Geringschätzung. Der Ladino zeigte heute Abend das Temperament eines Maya.
»Hast du Der Sonnentempel gelesen?«
»Lange her.«
»Tim und seine Freunde sollen den Inka-Göttern geopfert werden. Aber Tim hat in der Zeitung gelesen, dass es an diesem Tag zu einer Sonnenfinsternis kommen soll. Er bittet darum, während der Naturerscheinung hingerichtet zu werden, und tut so, als würde er die Sonne anrufen, die sich sogleich verdunkelt. Die entsetzten Indios lassen die Helden frei.«
»Und?«
»In dem Film Apocalypto greift Mel Gibson dieses Thema auf. Auch hier werden einfältige Ureinwohner gezeigt, die eine Sonnenfinsternis in Schrecken versetzt ...«
Jeanne verschränkte die Arme und sagte, nun ebenfalls ins »Du« wechselnd:
»Worauf willst du hinaus?«
»All dies hat einen realen Hintergrund. Das Ereignis ist in der Kolonialgeschichte in Vergessenheit geraten, aber der guatemaltekische Schriftsteller Augusto Monterroso hat es geschildert. Seine Geschichte trug den Titel Die Sonnenfinsternis .«
Sie seufzte. Sie würde nicht darum herumgekommen, sich diese Geschichte anzuhören.
»Es geht um einen Missionar namens Bartolomé Arrazola im 16. Jahrhundert. Die Maya haben ihn gefangengenommen und schicken sich an, ihn zu opfern. Da erinnert sich der Mann daran, dass eine Sonnenfinsternis bevorsteht. Er spricht ein wenig die Sprache der Ureinwohner. Er droht den Indios, die Sonne zu schwärzen, falls sie ihn nicht freilassen. Die Maya starren ihn
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