Im Wald der stummen Schreie
»Roberge versteckte verwundete Guerilleros in seiner Krankenstation. Im Garten war ein regelrechtes Waffenlager vergraben.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen, bevor er sich umbrachte?«
»Nein, aber er hat mir einen Brief hinterlassen.«
»Haben Sie ihn behalten?«
»Nein. Er bat mich darin, seine Beisetzung zu organisieren. Sonst hätte sich niemand darum gekümmert. Ein Jesuit, der sich eine Kugel in den Kopf jagte, war selbst damals eine Unperson. Er erläuterte, wie er beigesetzt werden wollte und was auf seinem Grabstein stehen sollte.«
»Eine Grabinschrift?«
»Irgendwas auf Lateinisch, ja. Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Wo ist dieses Grab?«
»Auf dem Friedhof von Sololá. Genauer gesagt, in der Nähe. Die Einwohner hätten es nicht geduldet, dass ein Geistlicher, der Selbstmord begangen hat, zwischen ihren Toten beigesetzt wird.« Er bekreuzigte sich. »Das bringt Unglück.«
»War das alles?«
»Nein, er hat mich um etwas sehr Merkwürdiges gebeten.«
»Was?«
»Dass ich sein Tagebuch mit ihm beerdige. ›Der Schlüssel zu allem‹, wie er sagte. Ich sollte es unter seinen Nacken legen.«
Ohne lange nachzudenken, fragte sie:
»Wie viel, um dieses Tagebuch auszugraben?«
» Chela , du hast nicht verstanden. Ich hab dir doch gesagt, dass ich das Buch mit ihm begraben habe.«
»Wie viel, um den Priester auszugraben?«
Hansel erstarrte. Nicolás verkrampfte sich.
»Maya tun so was nicht.«
Zum ersten Mal schien Nicolás mit dem Gnom einer Meinung zu sein. Hansel bebte vor Wut. Sein rechtes Bein zitterte. Jeanne fürchtete schon, er würde nach einer Machete greifen und ihr den Schädel spalten. Doch dann kehrte das Grinsen in sein Gesicht zurück. Seine Durchtriebenheit schien die Oberhand zu gewinnen.
»Das macht 1000 Dollar, nena. Mit dem Öffnen von Gräbern kenn ich mich aus.«
»500.«
»800.«
»600.«
»700. Und dein halbes Bleichgesicht kommt mit uns. Ich brauche Hilfe.«
Jeanne warf Nicolás einen fragenden Blick zu. In seinen Augen las sie ein Ja. Offensichtlich wollte er vor Hansel nicht als Schlappschwanz dastehen. Sie zählte 300 Dollar ab.
»Den Rest gibt's, wenn ich das Tagebuch habe.«
»Holt mich um Mitternacht ab.«
»Danke«, brummte sie. »Sie haben Mumm.«
Hansel grinste abermals. Entgegen allen Erwartungen hatte er blendend weiße Zähne.
»Wissen Sie, woran man hier Jade erkennt?«
»An der grünen Farbe, oder?«
»Es gibt in dieser Gegend viele grüne Steine. Man nimmt ein Messer und schabt an dem Stein. Wenn er Kratzspuren aufweist, ist es keine Jade. Hinterlässt die Klinge keine Spuren, ist es Jade.«
»Sie meinen, bei Ihnen hinterlässt nichts Spuren?«
»Wie bei allem, was hier wertvoll ist.«
Kaum hatte Jeanne die Garage verlassen, warf sie Nicolás einen weiteren Blick zu. Er wirkte wütend und enttäuscht. Sie verstand die Botschaft. Wenn sie wollte, dass der Fahrer mit von der Partie war, würde sie das weitere 700 Dollar kosten.
55
Auf dem Rückweg kamen sie an einem Geldautomaten vorbei – zweifellos dem einzigen in der ganzen Stadt. Mit Hilfe ihrer Visa-Karte konnte sie 500 Dollar in Quetzales abheben. Schon mal nicht schlecht. Jeanne hatte ausgerechnet, dass sie nach dem Kauf des Flugtickets und dem Aufenthalt im Intercontinental keinen Cent auf ihrem Konto hatte. Sie musste umgehend bei ihrer Bank anrufen und Geld von ihrem Sparkonto – dort lagen 3000 Euro, ihre einzigen Rücklagen – auf ihr Girokonto überweisen. Einmal mehr sagte sie sich, dass diese Ausgaben zu ihrem finanziellen Ruin beitragen würden. In dem Maße, wie sie verarmte, würde sie sich dem Wesentlichen nähern.
Jeanne nahm die Scheine an sich und steckte sie in ihre Tasche. Sie würde Nicolás mit ihrer Cartier-Uhr bezahlen – ein Schmuckstück, für das sie 2000 Euro bezahlt hatte. Sie mochte diese Uhr nicht, denn sie hatte sie sich selbst gekauft, und dieses Objekt an ihrem Handgelenk erinnerte sie immer wieder daran, dass niemand ihr je ein Geschenk gemacht hatte.
Jeanne verabredete sich für 23.30 Uhr mit Nicolás. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu Abend zu essen, keine Lust zu sprechen. Sie wollte sich einfach nur konzentrieren, bevor sie ihren jüngsten seltsamen Einfall in die Tat umsetzte: die sterblichen Überreste eines Priesters exhumieren, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war. Um ihm sein »Totenkissen« zu rauben: sein persönliches Tagebuch.
Endlich nahm sie eine Dusche. Nur ein dünner Strahl lauwarmen Wassers. Aber es gelang ihr,
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