Im Wald der stummen Schreie
einförmige Weite, die sich in den Wolken verlor.
Außerdem flößte ihr der Anblick dieser Landschaft eine gewisse Beklemmung ein. Zwei Kräfte schienen hier zu wirken. Die Geburt. Die Entstehung der Maya-Welt – mit ihren Geistern und Legenden. Aber auch der Tod. Seine zerstörerische Kraft und seine Agonie. Jeanne wusste, dass das Militär im Umkreis des Kratersees mit brutaler Gewalt gegen die Indio-Guerilleros vorgegangen war. Diese beschauliche Seenlandschaft war der Schauplatz eines echten Völkermords gewesen.
Nicolás hielt an und bat Jeanne auszusteigen. Dann breitete er vor dem See die Arme aus.
»Der Mittelpunkt der Maya-Welt. Der Nabel des Himmels und der Erde! Du wirst hier alles finden, wonach du suchst, juanita . Die Ethnien mit dem stärksten Traditionsbewusstsein. Die ältesten Maya-Götter. Aber auch Mystiker, Rucksacktouristen, Hippies, Junkies ... Atitlán, das ist unser Goa!«
Jeanne verstand diese jähe Begeisterung nicht. Sie schwieg. Die Dunkelheit brach herein, und mit ihr kam die Angst. Sie wusste immer weniger, wo ihr der Kopf stand, wohin sie gehen sollte, ja, was sie überhaupt an diesem Kratersee suchte.
Sie stiegen wieder in den Wagen, fuhren an braun-grünen Hügelflanken vorbei, bis sie ein Hotel fanden, das in einem Kiefernwald versteckt war. Ein Holzgebäude im Stil einer Ranch, zum See hin ausgerichtet. Ein echter »hot spot« für Touristen, doch bis jetzt hatte Jeanne noch keinen einzigen Besucher gesehen.
Nicolás stoppte vor dem Portal und unterhielt sich durch das heruntergekurbelte Fenster mit einem etwa vierzigjährigen Mann mit gegerbter Haut, der einen großen Sombrero trug. Sie redeten so schnell und mit einem so ausgeprägten Akzent miteinander, dass Jeanne kein Wort verstand. Sie vermutete, dass es sich um den Geschäftsführer oder Eigentümer des Hotels handelte.
Nicolás fuhr weiter über den Weg Richtung Ranch.
»War dieser Mann ein Maya oder ein Ladino?«, fragte Jeanne.
»Juanita« , antwortete Nicolás mit einem Anflug von Bewunderung, »hast du nicht seine Augen gesehen?«
»Was war damit?«
»Sie waren blau.«
Er hatte dieses Detail erwähnt, als wäre es eines der Weltwunder. Nicolás war wieder zu einem lupenreinen Ladino geworden, der von weißer Haut und modernen Zeiten amerikanischen Gepräges träumte.
53
Kaum war Jeanne in ihrem holzgetäfelten Zimmer – das an eine Schiffskabine erinnerte und auf einen dschungelartigen Garten ging –, rief sie ihre Sprachmails und ihre SMS ab. Sie hatte mehrere Nachrichten. Reischenbach, der sie bat, sich unverzüglich mit ihm in Verbindung zu setzen. Und ein weiterer Anruf – einer, mit dem sie am wenigsten gerechnet hätte: von Thomas.
Sie hätte laut auflachen können. Thomas, ihre große Liebe. Der Mann ihres Lebens, für den sie alles geopfert hätte. Thomas, der Hochstapler, der Lügner, der Dreckskerl. Offenbar liefen seine Heiratsprojekte nicht so gut, wie er es sich wünschte, sonst hätte er sich kaum an seine gute alte Jeanne erinnert ... Sie empfand die unglaubliche Distanz, die sie von diesem Mann, dieser Episode trennte. Selbst an sein Gesicht konnte sie sich kaum mehr erinnern. Und wenn sie in ihrem Gedächtnis kramte, fielen ihr nur seine Fehler ein: Egoismus, Heuchelei, Feigheit, Geiz ...
Das einzige Geschenk, das er ihr – auf indirekte Weise – je gemacht hatte, war dieser Fall. Sollte sie ihm dankbar dafür sein?
Sie löschte die Nachricht, die Nummer und die Erinnerung an diesen Typen und rief dann Reischenbach an. Zwei Uhr morgens in Paris. Aber das machte nichts. Der Polizist war noch wach. Jeanne berichtete von ihren neuen Erkenntnissen, wobei sie einiges unter den Tisch fallen ließ. Sie hatte nicht die Zeit, um auf Details einzugehen.
»Warum hast du mich angerufen?«, fragte sie ihn. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Ein Detail. Die Teams von Batiz treten mehr oder minder auf der Stelle, aber ich habe etwas herausgefunden. Die Sache mit der Postsendung hat mir keine Ruhe gelassen. Wieso hat Nelly Barjac ein Paket bekommen, das irgendetwas mit den Morden zu tun hat, nicht aber die anderen Mordopfer? Also bin ich noch einmal in die Wohnungen von Marion Cantelau und Francesca Tercia gegangen.«
Jeanne bemerkte ironisch:
»Für einen Polizisten, dem der Fall entzogen wurde, gehst du ganz schöne Risiken ein.«
»Marion hat nichts bekommen. Francesca dagegen hat am 6. April 2008 in ihrer Wohnung eine Paketsendung entgegengenommen.«
»Von Manzarena?«
»Nein, vom
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