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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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war blutig. Ein Viertel, dem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden war. Ein Ort wie ein aufgeschlitzter Körper, wo die Straßen Eingeweide und die Rinnsteine Fäkalienströme waren ...
    Hin und wieder hieß Nicolás den Fahrer, abzubremsen, weil er pobladores nach dem Weg fragen wollte. Sie antworteten ihm mit leiser Stimme. Jeanne verstand kein Wort – der Akzent, die Dunkelheit und die Kälte trübten ihre Wahrnehmung. Selbst wenn sie nur ein paar Sekunden lang stehen blieben, strömten sogleich Horden von Kindern herbei, die sich an dem Gefährt festklammerten, bettelten oder sie beschimpften. Nicolás' Angst begann auf Jeanne abzufärben. Doch dann setzte das Tuk-Tuk seine Fahrt fort, und ihre Ängste verflogen. Bis zum nächsten Halt.
    Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Hansels Schlupfwinkel war eine Garage voller Ersatzteile, ähnlich all jenen, an denen sie bereits vorbeigekommen waren. Eine nackte Glühbirne leuchtete im Innern und gab dem mit ölverschmiertem Gerümpel vollgestellten Kabuff das Aussehen einer Ali-Baba-Höhle.
    Nicolás stieg aus dem Tuk-Tuk aus.
    »Warte hier auf mich.«
    Er begab sich zu der Werkstatt. Jeanne blieb allein zurück. Keine Bettler, keine zwielichtigen Gestalten. Das war schon mal nicht schlecht. Im Schein der Laternen sah sie in dem Gässchen nur beklemmende Dinge. Ein kleines Kind, das in einer Pfütze aus schwarzem Schlamm herumpatschte. Ausgemergelte Hunde mit lateritverschmiertem Bauch, die irgendeinen Kadaver zum Abnagen suchten. Arbeitsbühnen mit halb gefrorenen Tierhälften, die einen Hautgout verströmten. Jeanne klapperte mit den Zähnen – die Angst, die Kälte, der Hunger. Sie hatte sich noch immer keinen Pullover gekauft.
    Sie stieg von dem Tuk-Tuk ab und wagte sich vor bis zur Schwelle der Garage. Nicolás unterhielt sich mit einem vierschrötigen Mann, der ihm den Rücken zuwandte. Alles, was sie hörte, war die halb schrille, halb heisere Stimme des Automechanikers:
    »No me gustan los gringos ...«
    Das fing schon mal gut an. Sie beschloss, sich über die hier geltenden Macho-Regeln hinwegzusetzen und sich kraftvoll in Szene zu setzen:
    »Y el dinero? Te gusta?« – »Aber Geld, das gefällt dir?«
    Jeanne hatte mit guatemaltekischem Akzent gesprochen. Hansel hielt inne und wandte sich dann um. Im Schein der Glühbirne zeichnete sich ein dunkelhäutiger Mann ab, der ebenso breit wie groß war und eine ölverschmierte Latzhose sowie einen ausgefransten Pullover trug. Die Hände in den Taschen vergraben, die Beine krumm wie zwei runde Klammern.
    Schweigend näherte er sich Jeanne. Sie hatte einen älteren Mann erwartet, doch er war nicht einmal fünfzig. Er hatte ein verbeultes Gesicht: Man ahnte die gebrochenen Knochen unter der gegerbten Haut. Narben durchzogen sein Gesicht – Spuren einer Flickarbeit, die ihm wenigstens annähernd wieder menschliche Züge verlieh. Das einzige horizontale Element waren die Augen – Indio-Mandelaugen, die einen wie Messerstiche durchbohrten.
    » Chela , ich muss nur ein kleines Stück von einer Statue verkaufen, um mir ein Mäuschen wie dich leisten zu können.«
    Jeanne errötete vor Scham. Nicolás ballte drohend die Fäuste und näherte sich ihm. Unvermittelt grinste Hansel.
    »War bloß ein Scherz, compañera. « Er spuckte sehr geschickt aus – die Spucke landete in der Mitte eines Haufens von Reifen. »Mea culpa.«
    Jeanne schluckte verunsichert.
    »Also?«
    »Also sag mir, was du wissen willst. Einer Wuchtbrumme wie dir kann ich nicht widerstehen.«
    Er warf ihr eine Kusshand zu. Nicolás machte noch einen Schritt auf ihn zu, aber Jeanne hielt ihn mit einer Geste zurück.
    »Ich sammle Informationen über Pierre Roberge.«
    Hansel stieß einen Pfiff aus.
    »Eine alte Geschichte.«
    »In welcher Beziehung standen Sie zu ihm?«
    »Er war ein Freund.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Ein wahrer Freund.«
    »Wie haben Sie sich kennengelernt?«
    »Er hat mir mal aus der Patsche geholfen. Im Jahr 1982 haben Geheimpolizisten von der Sondereinheit G 2 Basreliefs in meiner Garage entdeckt. Sie haben mich eingebuchtet und geschlagen. Sie hätten mich umgebracht, wenn Roberge nicht eingegriffen hätte.«
    »Wieso hat er das gemacht?«
    »Weil wir uns kannten. Hin und wieder haben wir zusammen einen gehoben. Und weil er jede Art von Blutvergießen verabscheute.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Dass eine archäologische Expedition der Jesuiten die offizielle Erlaubnis habe, Fragmente des Tempels in Gewahrsam zu

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