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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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ungläubig an. Sie beratschlagen. Der Missionar, der noch immer gefesselt ist, wartet in aller Ruhe darauf, freigelassen zu werden. Er ist sich seiner Sache völlig sicher. Er vertraut auf seine Überlegenheit. Auf die Überlegenheit seiner Kultur und seiner Vorfahren. Einige Stunden später ruht sein Körper leblos, mit herausgerissenem Herzen, unter dem schwarzen Stern, während die Indios langsam und ungerührt die Liste sämtlicher Sonnenfinsternisse herunterbeten, die die Maya-Astronomen für die kommenden Jahrhunderte vorhergesagt haben.«
    Schweigen. In diesem Raum gab es nicht einmal eine Stechmücke – sie hatten sich in die Täler zurückgezogen, auf der Suche nach der wohltuenden Hitze der Tropen.
    »Und die Moral von der Geschichte?«
    Nicolás beugte sich vor. Seine schwarzen Augen, sein schmales, weißes Gesicht, sein kahler Kopf, seine Adlernase und seine dünnen Lippen. Jeanne erkannte jetzt unter dem weißhäutigen Firnis die Indio-Züge. Ein in den Kalkstein der Pyramiden seiner Vorfahren gemeißeltes Gesicht.
    »Die Moral«, fuhr er mit zischender Stimme fort, »lautet, dass ihr keinen Grund habt, uns für Dummköpfe zu halten. Schon im sechsten Jahrhundert waren unsere Kalender genauso präzise, wie es heute eure sind. Eines Tages werden wir Indios die Regierung stellen, wie in Bolivien. Und eines fernen Tages werdet ihr euch vor unseren Göttern für eure Verbrechen verantworten müssen. Das Popol Vuh sagt: ›Niemals wird unser Volk zerstreut werden. Sein Geschick wird die Tage des Unheils bezwingen ...‹«
    Nicolás war also ein reinrassiger Maya. Trotz seines Skifahrer-Looks und seiner hellen Haut, trotz seiner rassistischen Bemerkungen. Er nahm es seinem Volk übel, dass es unterwürfig, abergläubisch und unbeweglich war. Ein ständiger Zorn brodelte in ihm.
    Jeanne schien es mit einem Male, als wäre auch diese Nacht wie ein Indio.
    Erfüllt von einer dumpfen und kalten Wut.
    Was würde sie am Ende finden?

 
    56
    Der Friedhof von Sololá befand sich auf einer Anhöhe über dem See. Jeanne hatte noch nie einen solchen Friedhof gesehen. Alle Gräber waren in grellen Farben gestrichen. Die Grabmäler glichen buntgemusterten Badekabinen. In farbenfrohen, mit Sträußen aus Plastikblumen verzierten Mauernischen standen Urnen mit der Asche von Verstorbenen. Ein wahres Feuerwerk.
    Hansel, der »Jademann«, stapfte mit forschen Schritten zwischen den Gräbern hindurch, in der Hand eine riesige Taschenlampe, deren Lichtkegel den Weg erhellte. Auf der Schulter trug er eine Schaufel und eine Hacke. Allein die Art, wie er sie hielt, verriet, dass er reichlich Erfahrung mit der Exhumierung von Leichen und Grabungen hatte. Nicolás folgte ihm mit bedächtigen Schritten. Jeanne hatte ihm bereits ihre Uhr überlassen.
    »Wir sind da.«
    Sie hatten das Ende des Friedhofs erreicht. Das Gelände endete jäh an der Kante eines Steilhangs. Der See, der sich unter ihnen erstreckte, glich im Mondlicht einer riesigen Aluminiumfläche. Die Silhouetten der Vulkane wachten über dem Krater, der die Welt der Maya hervorgebracht hatte. Jeanne verstand, was sie so berührte: die Aura der Ewigkeit. Jede Kräuselung auf dem See, jede Tannennadel, jeder Windhauch – alles schien noch genauso wie zu Beginn von Zeit und Raum.
    »Wir müssen hinuntersteigen.«
    Unterhalb der steilen Felswand erstreckte sich ein unübersichtliches Gelände, das von Abfällen, abgestorbenen Bäumen und dichtem Gestrüpp überzogen war.
    »Dort ist Roberge begraben?«, fragte Jeanne.
    »Ich habe es Ihnen doch gesagt: Die Indios hätten es niemals geduldet, dass er zwischen ihren Toten beigesetzt wird.«
    Sie dachte kurz voller Mitgefühl an Pater Roberge, den Verdammten unter den Verdammten, den Heiligen, der sich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Unwillkürlich blickte sie zu den Sternen empor, die am schwarzen Himmel leuchteten. Auf einem Hügel zur Rechten sah sie andere Lichter, die zwischen den Bäumen schimmerten. Waren es Fackeln? Ferne Trommelschläge drangen an ihr Ohr.
    »Was ist das?«
    »Leute aus Santiago Atitlán vom Stamm der Tzutuhil«, antwortete Hansel. »Sie kommen von der anderen Seite des Sees, um die Cakchiquel von Panajachel zu bekehren.«
    »Wozu zu bekehren?«
    »Zum Kult des Maximón.«
    »Wer ist ›Ma-schi-mo‹?«, fragte Jeanne, die Aussprache von Hansel nachahmend.
    Der Raubgräber lächelte.
    »Ein schwarzer Gott. Ein Typ, den man mit Judas identifiziert, dem Verräter, der Jesus ans Kreuz brachte. Ein

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