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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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dem Foto wieder, es war nur ausgemergelter und schimmerte grünlich. Ein dünner Moosrasen hatte den Mann und seine Ordenstracht mit dem Römerkragen überzogen und ihn so gegen die Fäulnis geschützt. Die einzigen sichtbaren Zeichen der Zersetzung waren sein ausgetrocknetes Gesicht und seine leeren Augenhöhlen: zwei golfballgroße schwarze – oder eher dunkelgrüne – Löcher.
    Sie fasste sich wieder, indem sie sich auf ihren nüchternen Verstand und ihr Wissen zurückbesann. Das Phänomen des »spontanen Ausbleibens der Verwesung« war viel weiter verbreitet, als man glaubte – und es gab keine Erklärung dafür. Wenn im Rahmen eines Seligsprechungsverfahrens die sterblichen Überreste einer Person exhumiert wurde – um deren Erhaltungszustand zu überprüfen –, fand man häufig einen gut konservierten Leichnam. Daraufhin erklärten die kirchlichen Behörden, der Tote verströme den »Wohlgeruch der Heiligkeit« – diese Düfte sollten angeblich die Zersetzung der sterblichen Hülle verhindern. Hätte Pierre Roberge auf dieser Liste gestanden, wäre er direkt heiliggesprochen worden ...
    Wie zur Bestätigung sanken die beiden Totengräber auf die Knie und begannen zu beten. Dampfwölkchen stiegen von ihren Lippen auf. Jeanne glaubte zu träumen. Die phosphoreszierende, ausgemergelte Mumie, die beiden Maya, die ihre Litaneien beteten, die Feuer zu Ehren von Maximón über ihren Köpfen ...
    »Hansel«, rief sie, um ihn aus seiner Entrückung herauszureißen, »das Heft!«
    Der Indio antwortete nicht. Er betete mit auf der Brust gefalteten Händen. Nicolás befand sich ebenfalls in einer Art Trance.
    »Mist«, schrie Jeanne, »schnappt euch das Heft!«
    Weder der eine noch der andere rührte sich. Sie sprang ins Grab, stützte sich auf den knienden Nicolás, versuchte sich dem Gesicht von Roberge zu nähern, stolperte und fiel der Länge nach in den Sarg.
    Unter ihrem Gewicht zerbrach der Leichnam wie dünnes Glas. Die Haut war erhalten – aber der Körper war innerlich ausgeweidet. Die Würmer hatten im Innern ganze Arbeit geleistet. Um sich wieder aufzurichten, stützte Jeanne die Hand auf die Brust der Mumie und brach bis zum Ellbogen ein. Das staubtrockene Fleisch zerfiel in winzige phosphoreszierende Kristalle. Mit der anderen Hand hielt sie sich an der gegenüberliegenden Kante des Sarges fest.
    Die beiden Maya beteten noch immer.
    »Mist! Mist! Mist! ...«, stammelte sie.
    Endlich gelang es ihr, sich umzudrehen, mit dem Rücken gegen die Wand der Grube. Sie steckte die rechte Hand unter den Kopf des Geistlichen. Da war das Heft mit dem Ledereinband, eingewickelt in Plastikfolie. Jeanne zog die Hand zurück: Aaskäfer, Tausendfüßer und funkelnder Glimmer bedeckten sie. Auf den Zehenspitzen stehend, stützte sie sich mit den Unterarmen am Grubenrand ab und wuchtete sich mühsam heraus.
    Sie wollte gerade loslaufen und die beiden Männer ihren Litaneien überlassen, als Hansel sich an sie zu erinnern schien.
    »Und meine Kohle?«, schrie er, jäh aus seiner Entrückung auftauchend.
    Jeanne kramte in ihrer Tasche und warf ihre Quetzales in die Grube. Der Schauer aus abgegriffenen Geldscheinen, der über der zerbröselten, grünlich schimmernden Mumie niederging, war das Letzte, was sie von der Szene sah.
    Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief los, die kostbare Beute an sich pressend.
    Für einen Freitag, den 13., war ihr Bedarf gedeckt.

 
    57
    Jeanne kehrte ins Hotel zurück. Ihr Gesicht glühte noch immer, so sehr hatte sie unterwegs ihre Kräfte verausgabt – sie hatte die Felswand erklommen, den Friedhof durchquert, war auf die Straße gestoßen und losgelaufen. Ein Tuk-Tuk war vorbeigekommen ... Jetzt ging es darum, die Vergangenheit auszuradieren, wieder bei null anzufangen. Die Nacht. Ihr Leben ...
    Sie ging unter die Dusche. Noch weniger Wasser als beim ersten Mal. Sie rieb sich Arme und Beine so kräftig und so lang, bis das Blut wieder durch ihre Venen floss. Sie streifte sich ein T-Shirt, mehrere Polohemden, einen Schlüpfer und eine Jogginghose über – alles, was sie in ihrer Tasche fand. Welche andere Möglichkeit gab es, sich aufzuwärmen?
    Natürlich verfügte diese eher bescheidene Herberge über keinen Zimmerservice, dafür stand in jedem Zimmer ein elektrischer Wasserkocher und daneben ein Glas mit löslichem Kaffee. Jeanne hatte keine Lust auf Kaffee, aber sie verreiste nie ohne grünen Tee im Gepäck. Sie setzte Wasser auf. Dann stellte sie sich vor die Doppeltür, die auf

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