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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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gewitzter Bursche mit einem Ding wie ein Esel, umgeben von einem Dutzend flotter Bienen, mit denen er sich köstlich amüsiert. Er trägt einen Cowboyhut, mehrere Krawatten auf einmal und raucht eine Zigarre. In der Karwoche wird er zusammen mit katholischen Heiligen durch die Straßen geführt. Er ist unser Fruchtbarkeitsgott. Eine Art Dämon, der aus einem Dampfbad entsprungen ist. Man betet zu ihm um sexuelle Energie, Vitalität, Fruchtbarkeit der Erde.«
    Jeanne betrachtete noch immer die Feuer in den Wäldern.
    »Und heute Nacht rufen sie ihn an?«
    »Jede Nacht, chiquita. Die Ajkun, die Schamanen, machen Feuer. Sie verbrennen Kopal und Tabak und besprengen den Boden mit aguardiente – Schnaps. Maximón sorgt für Regen und Sonnenschein über den Feldern und für Geburten in Santiago Atitlán. Selbst in den Kirchen sieht man ihn zwischen Maria und Petrus. Also gut. Steigen wir jetzt hinunter, oder?«
    Die Gruppe machte sich auf den Weg. Sie mussten um die letzten Gräber herumgehen und dann den Abhang hinunterrennen. Trotz ihrer Sportschuhe hätte sich Jeanne in dem Gestrüpp fast den Knöchel verstaucht. Sie schöpfte neue Kraft aus der Unwirklichkeit des Augenblicks. Der unbewegte See. Die Feuer, entzündet für einen Judas mit Cowboyhut ...
    Unten angekommen, gingen sie über ein Brett, das einen mit Brackwasser gefüllten Graben überspannte, und schon standen sie inmitten der Müllkippe.
    »Etwas weiter nach rechts.«
    Sie stiegen über schmieriges Papier, zerrissene Kartons, organische Abfälle hinweg. Dann stapften sie seitwärts, wobei sie möglichst große Schritte machten, als würden sie einen Sumpf durchqueren. Ein stechender Modergeruch stieg auf. Abfälle, verfaulte Früchte, Tierkadaver ....
    »Gleich sind wir da.«
    Jeanne biss die Zähne zusammen. Die Dornen der Brombeerhecken hatten ihr die Knöchel zerkratzt. Sie gelangten auf einen grasbewachsenen Felsvorsprung, der im Schutz der ersten Bäume des Hügels lag. Da war das Grab. In Wirklichkeit ein Haufen großer schwarzer Steine, der durch einen Gürtel wild wachsender Pflanzen von den Abfällen abgeschirmt wurde. Lavabrocken.
    Hansel zog sich auf den kleinen Grabhügel hoch, der seinerseits von der Anhöhe überragt wurde. Er streckte Jeanne die Hand entgegen, die nun ihrerseits den Hügel erklomm. Niemand half Nicolás, der einen Augenblick später neben ihnen stand. Kurze innere Sammlung. Am Rand des Grabes war eine Gedenktafel aus Sandstein aufgestellt worden:
    Pierre Roberge
    b. March, 18, 1922 in Mons, Belgium
    d. October, 24, 1982 in Panajachel, Guatemala
    Weshalb auf Englisch? Das Wichtigste aber schien die darunter stehende Grabinschrift:
    ACHERONTA MOVEBO
    Die Worte kamen Jeanne bekannt vor, aber sie konnte sie nicht übersetzen.
    »Das ist Lateinisch«, stieß Hansel hervor. »Er hat mich gebeten, das auf seinen Grabstein zu schreiben.«
    »Was heißt das?«
    »Keine Ahnung. Ein Zitat von einem eurer antiken Dichter. Sehr alt. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen.«
    Der Plünderer legte seine Taschenlampe so hin, dass sie das Grab beleuchtete. Er packte einen Stein, warf ihn ein oder zwei Meter weit weg und knurrte zwischen den Zähnen:
    »Hey, Bleichgesicht, pack schon mit an!«
    Stumm gehorchte Nicolás. Einige Minuten später hatten sie den Geröllhaufen vollständig abgedeckt. Hansel packte die Schaufel, Nicolás die Hacke. Sie gruben Seite an Seite, ohne ein Wort zu wechseln. Als wäre der andere Luft. Dampfwölkchen stiegen von ihren Lippen auf.
    Minuten vergingen. Das Loch wurde tiefer und nahm immer stärker die Maße eines menschlichen Körpers oder eines Sarges an. Jeanne hob den Blick. Der makellos glatte Spiegel des Sees. In seiner Mitte das starre Spiegelbild des Mondes. Darüber Reflexe der Feuer, für Maximón entzündet. Abermals überkam sie ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Doch die Oberfläche des Sees wirkte wie eine dünne Membran, die jeden Moment zerreißen konnten, um etwas Entsetzliches zu enthüllen.
    »Madre de Dios!«
    Der Schrei kam aus dem Grab. Die beiden Männer wichen an die Seitenwände zurück, wie gelähmt durch das, was sie gerade entdeckt hatten. Sie hatten den Sarg geöffnet. Jeanne sah nicht sofort, was er enthielt. Zumindest nahm sie es nicht bewusst wahr. Sie beugte sich vor, griff nach Hansels Lampe und richtete sie auf die sterblichen Überreste. Sie wankte und wäre beinahe in den Graben gefallen.
    Der Leichnam von Pierre Roberge war nicht verwest.
    Jeanne erkannte das Gesicht von

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