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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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...
    Ein Kind des Waldes. Ein Mensch, der nicht von Menschen aufgezogen worden war ... Ein Geschöpf, das ganz und gar Sklave brutaler, roher Triebe war.
    Diese primitive Gewaltbereitschaft konzentrierte sich in den Händen des Kindes. Diese gekrümmten langen Klauen mit langen Nägeln waren bereits abgenutzt. Aber vor allem waren sie missgebildet, nach innen gewendet.
    Jeanne drehte das Foto um und las: »Campo Alegre, Formosa, 23. Juni 1981.«
    Sie legte das Bild aufs Bett und wandte sich wieder dem Heft zu. Sie bewunderte die regelmäßige Handschrift von Pierre Roberge. Das war nicht die Handschrift eines Priesters, der von einem Dämon oder von panischer Angst gepeinigt wurde. Es waren die Schriftzüge eines Mannes, der vollkommen ernüchtert war und der präzise das festhalten wollte, was er erlebt hatte.
    Hinzu kam eine erfreuliche Überraschung: Die Zeilen waren auf Französisch geschrieben.
    Sie machte es sich auf dem Bett bequem und vertiefte sich in die Lektüre.

 
    58
    12. Mai 1982, Missionsstation San Augusto, Panajachel, Guatemala
    Sind gestern angekommen. Nachts. Wie Diebe. Unser Ruf ist uns schon vorausgeeilt. Ich spüre das Misstrauen, das uns entgegenschlägt. In Antigua wurden wir kurz von meinen Mitbrüdern vom Orden des heiligen Ignatius aufgenommen. Sie schienen es eilig zu haben, uns wieder loszuwerden. Umso besser. Weder wollte ich ihnen Erklärungen geben noch mich dafür rechtfertigen, dass mich Juan begleitete. Im Moment will ich nur eins: den Albtraum von Argentinien vergessen. Wir sind mit dem Jeep nach Panajachel weitergefahren. Die Missionsstation von San Augusto liegt ein paar Kilometer außerhalb der Ortschaft.
    Auf der Straße zum Atitlán-See wurden wir Zeuge einer Szene, die Bände darüber spricht, was uns erwartet. Ein »Exempel«, das Soldaten an Bewohnern eines Dorfes statuierten. Am Straßenrand saßen etwa zehn Gefangene – nackt, blutverschmiert und mit verschwollenem Gesicht. Einige waren skalpiert worden. Andere hatten keine Ohren, keine Nägel und keine Fußsohlen mehr. Frauen waren die Brüste abgeschnitten worden. Spuren von Verbrennungen und Stichen zeichneten ihre Körper. Andere wiesen keine Wunden auf, waren aber aufgedunsen wie Luftballons. Ich vermute, dass man ihnen ein örtliches Gift verabreicht hat. Die Henker trugen eine spezielle Uniform. Sie werden hier kaibiles genannt, was in der Sprache der Indios Tiger bedeutet. Wie Lehrer haben sie den Tagelöhnern alle Foltermethoden erklärt, die sie an ihnen anwandten. Dies verkündeten sie, sei das Schicksal, das alle subversivos erwarte. Zum Schluss übergossen sie die Gefangenen mit Benzin und zündeten sie an. Die Opfer schienen plötzlich aufzuwachen; sie schrien und warfen sich in den Flammen hin und her. Die anderen Bauern, von Waffen bedroht, rührten sich nicht; ohnmächtig sahen sie der Gräueltat zu, vielleicht sprachen sie nicht einmal Spanisch ...
    Dieses düstere Schauspiel faszinierte Juan. Ich dagegen habe gebetet. Und mir die Ironie der Situation vor Augen geführt. Nach Argentinien ist dieses Land eine weitere Kloake der Grausamkeit und Gewalt. Aber welcher Ort wäre besser geeignet, uns aufzunehmen, mich und Juan?
    17. Mai 1982, San Augusto
    Die Arbeit, die hier geleistet werden muss, ist gigantisch. Aber die Dinge spielen sich bereits ein. Als Leiter der Missionsstation muss ich einstweilen dafür sorgen, dass die laufenden Projekte glatt über die Bühne gehen. Katechismus-Unterricht. Allgemeine Schulbildung. Medizinische Versorgung. Lokales Radio ...
    Was die Gewalt anlangt, kommt mir alles ziemlich vertraut vor. Die Repression ist fast noch schlimmer als in Campo Alegre. Die Soldaten schießen zuerst, bevor sie Fragen stellen. Ihre Motive sind nicht politischer, sondern ethnischer Natur. Ein grenzenloser Rassismus gegenüber den Indios treibt sie an. Hundefutter, so nennen sie die Ureinwohner.
    Während der fünf Tage, die ich hier bin, wurden in der Umgebung der Missionsstation bereits die zehn Bauern entführt oder getötet. Scheinbar grundlos. Ihre mit Macheten zerstückelten Leichen wurden am Straßenrand gefunden. Ich vermute, dass viele der Freiwilligen, die uns in der Krankenstation und im Waisenhaus helfen, Mitglieder der FAR (Fuerzas Armadas Rebeldes) sind, aber man sagt mir nichts. Der einzige Arzt hier, ein Guatemalteke, misstraut mir. Die Indios verachten mich. Aufgrund meiner belgischen Herkunft und meiner argentinischen Vergangenheit stehe ich für sie auf einer Stufe mit den

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