Im Wald der stummen Schreie
den Garten ging. Sie fröstelte, als Bilder vom Friedhof vor ihr auftauchten. Das grüne Gesicht. Das zerbrochene Skelett. Die Gebete der Maya ...
Das Knattern des Wasserkochers riss sie aus ihren Gedanken.
Sie goss ihren Tee auf. Sie hatte das Gefühl, ihr Gesicht wäre abgestorben. Gierig trank sie den ersten Schluck und verbrühte sich den Mund. Umso besser. Die Hitze. Hauptsache, die Hitze durchdrang ihren ganzen Körper bis auf die Knochen, um die panische Angst zu vertreiben ...
Jeanne setzte sich aufs Bett und betrachtete das Heft in der Plastikhülle, das auf ihrem Nachttisch lag. Gerade als sie danach greifen wollte, fiel ihr etwas ein, was sie unbedingt klären musste. Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer von Emmanuel Aubusson. Zwei Uhr nachts in Guatemala, neun Uhr morgens in Paris.
»Wie geht's?«, fragte er mit seiner warmen Stimme, nachdem er sie erkannt hatte.
»Ich bin im Ausland, stelle hier Nachforschungen an.«
»Aber geht's dir gut?«
»Ich habe deinen Rat beherzigt. Ich bin meinem Mörder auf der Spur.«
»Dann ist ja offenbar alles bestens.«
Die fernen Feuer der Tzutuhil. Die moosüberzogene Mumie von Roberge. Ihr Arm, der bis zum Ellbogen in dem Torso des Toten versank.
»Du sagst es«, antwortete sie mit einem nervösen Lachen. »Ich ruf dich wegen einer Auskunft an.«
»Ich höre.«
»Sagen dir die Worte Acheronta movebo etwas?«
»Natürlich. Das ist ein Zitat aus der Aeneis von Vergil. Der vollständige Satz lautet: Flectere si nequeo superos, acheronta movebo . Das bedeutet: ›Wenn ich schon die Himmlischen nicht erweichen kann, werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen.‹ Oder, kürzer gesagt: ›Ich werde die Unterwelt aufrütteln.‹«
Ich werde die Unterwelt aufrütteln. Man hätte es nicht besser ausdrücken können. Roberge hatte ein Kind großgezogen, das sich als Bestie entpuppte. Er hatte eine Schlange an seinem Busen genährt. Er hatte den Mord des Kindes gedeckt. Dann hatte er sich umgebracht. Die Grabinschrift passte perfekt.
»Danke, Emmanuel. Ich ruf dich wieder an.«
»Wann immer du möchtest. Ich bin neugierig, was du herausfindest.«
»Du wirst der Erste sein, der es erfährt.«
Jeanne legte auf. Sie trank wieder einen Schluck. Es war Zeit, die Plastikhülle zu öffnen. Sie tat es vorsichtig, als könne aus den steifen Falten eine Schlange herausschießen. Sie hörte, dass es draußen regnete. Ein Wolkenbruch, der mitten in der Nacht niederging. In ihrem Zimmer fühlte sie sich geschützt, und dieses Gefühl der Sicherheit tat ihr gut.
Die Seiten des Heftes öffneten sich von selbst. Ein Foto fiel heraus und auf ihre Knie. Ein guter Anfang. Sie hob es auf und erstarrte.
Die Aufnahme zeigte ein nacktes Kind, das von zwei bewaffneten Indios umringt war. Vergeblich bemühten sich die Männer, das Kind zu bändigen. Sie versuchten sich nichts anmerken zu lassen, doch ihre Angst war deutlich erkennbar.
Das Kind zwischen ihnen war ein Monster.
Klein, von rachitischer Schmächtigkeit, der Körper mit Fell überzogen, in dem sich Rindenstücke und Blätterreste verfangen hatten. Der schwarze Körper war krumm, entstellt und kantig. Inmitten des verfilzten Fells sah man Knoten, Geschwüre und rohes Fleisch ...
All dies aber war nichts im Vergleich zum Gesicht.
Eine scheußliche Fratze, in der sich affenartige Grausamkeit mit verunstalteten menschlichen Zügen verband. Es erstaunte Jeanne, dass diese Fratze mehr oder minder dem Gollum ihrer Albträume glich. Das Monster war ihr vertraut. Es hatte aus dem Fenster von Antoine Férauds Badezimmer das Lied Porque te vas gesummt. Und es zerbrach die Knochen seiner Opfer in Tiefgaragen, um das Mark auszuschlürfen ...
»Joachim ...«, flüsterte Jeanne.
Sie überwand ihren Widerwillen und zwang sich dazu, das Gesicht eingehend zu mustern. Das zerzauste schwarze Haar hatte nie einen Kamm oder eine Schere gesehen. Unter dieser Mähne sprang einem ein Gesicht entgegen wie das einer Raubkatze im Dschungel. Das Gesicht eines sieben- oder achtjährigen Jungen, so knochig wie das eines Hundertjährigen. Die gefletschten Zähne blitzten hinter krampfartig gespreizten Lippen. Der Mund, der nur raubtierhafte Kraft und Grausamkeit war, strahlte die gleiche Gewalttätigkeit aus wie die Augen ...
Zitternde, ermattete schwarze Augen, die jedoch Wachsamkeit verrieten. In dem Blick des Kindes kämpften Angst und Aggressivität miteinander. Aus seinen Augen blitzte die reine, wahnsinnige Mordgier.
Ein Wolfskind
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