Im Wald der stummen Schreie
Kind zwischen sechs und acht Jahre alt, sehr mager und stinkt entsetzlich. Es wird von Fliegen umschwirrt. Sein Körper ist von schmutzstarrendem Fell überzogen. Sein Gesicht verschwindet schier unter einer riesigen schwarzen Mähne. Speichel rinnt ihm aus dem Mund. Es hat lange, gekrümmte Nägel, die mit Erde verkrustet sind. Es schläft viel, aber sobald es aufwacht, ist es sehr aggressiv. Der Krankenschwester zufolge ist es wirklich am Bein verletzt. Daher muss es dringend behandelt werden. Ich werde heute Abend mit Tomás, meinem Arzt, zu ihm gehen. Wir werden ihm vor Ort Erste Hilfe leisten und es dann im Waisenhaus aufnehmen.
21. Mai 1981
Verblüffend – das ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Es ist ein echtes Wolfskind. Kaum dass ich es sah, überfielen mich Erinnerungen an Bücher und Kinofilme. Das Wolfskind von Aveyron, die beiden indischen Wolfskinder Amala und Kamala. Ein weiterer Fall, von dem ich gehört habe, hat sich vor ein paar Jahren in Burundi ereignet ...
Ich habe mir von den Behörden in Campo Alegre eine Entlastungsbescheinigung ausstellen lassen, und wir haben das Kind in die Krankenstation gebracht. Wir haben es gewaschen und ihm die Nägel und Haare geschnitten. Erste Überraschung: Das Kind ist kein Indio. Seine Haut ist weiß, seine Augen sind dunkelbraun. Allem Anschein nach hispanischer Abstammung. Zweite Feststellung: Sein Körper ist von Narben, Stichen, Schrammen, Schnitten überzogen. Dritte Bemerkung: Die Wunde am Bein ist nur oberflächlich.
Tomás hat ihm eine Penicillin-Spritze verabreicht. Wir haben ihn abgehorcht. Sein Alter lässt sich nicht exakt angeben. Ich schätze ihn auf sechs oder sieben Jahre. Der Junge ist zwar mager – er wiegt zweiunddreißig Kilo –, aber gleichzeitig sehr muskulös. Er leidet an schrecklichen Koliken und hat sich eine Malaria zugezogen. Bei den Untersuchungen werden gewiss weitere Erkrankungen festgestellt werden.
Heute Morgen habe ich zugesehen, wie Tomás Juan – die Dorfbewohner nennen ihn so – abgehorcht hat, und ich habe mich gefragt: Wie lange hat er im Wald gelebt? Wie konnte er in einer Umwelt, in der es ein Mensch kaum einen Tag lang aushält, überleben? Die Hitze. Die Insekten. Die ständige Bedrohung durch Raubtiere im Wasser und auf dem Land. Wie hat er sich verteidigt? Wurde er tatsächlich von den Brüllaffen geschützt?
Gegenwärtig scheint er nichts zu sehen und nichts zu hören. Er blinzelt in einem fort und verdreht die Pupillen unter den Lidern. Auf laute Geräusche reagiert Juan nicht, aber beim leisesten Rascheln zuckt er zusammen. Der Arzt ist sich ganz sicher: Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er taub oder stumm ist. Trotzdem zeigt er keinerlei Interesse für die Außenwelt. Er wiegt sich unentwegt vor und zurück. Er erinnert mich an die autistischen Kinder, denen ich als Krankenhausgeistlicher in Brüssel begegnet war.
Woher kommt dieses Kind? Vielleicht wurde es von seinen Eltern, die im Dorf leben, ausgesetzt. Oder der Junge ist aus irgendeinem Grund selbst von zu Hause ausgerissen. Eine weitere Möglichkeit: Er ist aus der Militärbasis geflohen, wo ebenfalls gelegentlich Kinder zur Welt kommen. Wenn er aus der Gegend stammt, wird er leicht zu identifizieren sein. Wenn er in der Kaserne geboren wurde, wird es schwieriger werden. Die Militärs werden keine Auskünfte geben.
25. Mai 1981
Wir haben Juan in einem abseits gelegenen eingezäunten Grundstück untergebracht, damit ihn die anderen Kinder nicht provozieren. Wenn er spürt, dass ihn jemand ansieht, ergreift ihn panische Angst. Er läuft hin und her, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht und einschläft. Sobald er aufwacht, zerrt er wieder an seiner Schnur – wir mussten ihn festbinden, sonst würde er sich am Zaun verletzen. Ich sage mir immer wieder die Worte Christi nach Matthäus: »Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben.«
Wir geben ihm zu essen. Zwar nimmt er auch Bohnen und Maiskolben an, aber lieber sind ihm Früchte und Körner. Beim Essen macht er einen verängstigten Eindruck. Stets scheint er zu befürchten, dass man ihm das Essen wegnehmen könnte. Zweifellos eine Erinnerung an das Leben in der Affenhorde.
Wenn er schläft, wirft er sich ständig unruhig hin und her. Er verzieht sein Gesicht tickartig. Krämpfe erschüttern seinen Körper. Er ist ständig auf der
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