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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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diese Weise ausdrücken ...«
    Jeanne sah auf. Sie erinnerte sich an das Gebrüll, das in der Praxis von Antoine Féraud widerhallte. Kein Zweifel: Das kehlige Kreischen von Juan / Joachim war ein Relikt aus dem »Wald der Manen« ...
    »Und sind sie auch innerhalb ihrer Gruppe aggressiv?«
    »Ein Männchen lebt mit mehreren Weibchen und deren Jungen. Das dominante Männchen springt mit den anderen nicht gerade sanft um. Im Allgemeinen sind die Beziehungen innerhalb der Gruppe streng hierarchisch geordnet. Das gilt für die Fortpflanzung, die Nahrung, für alles.«
    Jeanne erinnerte sich an die Hypnose-Sitzung bei Féraud. Der Wald, er beißt dich ...
    »Wie muss man sich sein Leben unter den Affen vorstellen?« »Es war ein hartes Leben in einem Zustand permanenter Bedrohung.«
    »Juan ist viel größer als die Affen – wie konnte das funktionieren?«
    »Das lässt Rückschlüsse zu auf den Zeitpunkt, zu dem er in die Gruppe aufgenommen wurde. Er muss noch recht klein gewesen sein, unter einem Meter jedenfalls. Wie alt könnte er gewesen sein? Vier oder fünf Jahre? Als er dann größer wurde, hat ihn die Gruppe vermutlich verstoßen. Der Größenunterschied und seine Unbeholfenheit haben ihn auf natürliche Weise ausgeschlossen.«
    Jeanne malte sich das schreckliche Leben des Kindes aus. Sie hörte das Rascheln der Blätter, das Knistern der Zweige, das heisere Gurren. Sie roch den Gestank der anderen ... fürchtete sich vor ihren Schlägen, ihren Bissen ... Sie war Juan ...
    »Nun möchte ich Ihnen meinerseits ein paar Fragen stellen.«
    »Ich höre.«
    »Wie reagiert Juan, wenn er sich beobachtet fühlt?«
    »Er wird nervös. Er wirft sich hin und her.«
    »Dreht er Ihnen den Rücken zu?«
    »Ja, aber er wirft mir weiterhin kurze Blicke zu.«
    »Ein typisches Verhalten der carayás . Zerrt er am Zaun, um Personen, die sich nähern, zu erschrecken?«
    »Nein.«
    »Zeigt er sein Hinterteil zum Zeichen der Unterwerfung?«
    »Unterwerfungsgesten gehören nicht zu seinem Verhalten.«
    »Er muss nicht sämtliche Verhaltenweisen der Brüllaffen übernommen haben.«
    »Glauben Sie, dass sich seine kognitiven Defizite beheben lassen?«
    »Ich bin Ethologe, kein Psychologe.«
    »Ich glaube bei Juan Symptome von Autismus zu erkennen. Könnte das Leben im Wald seine mentale Entwicklung zum Stillstand gebracht, eine Art Regression hervorgerufen haben?«
    »Um beurteilen zu können, ob er seinen Entwicklungsrückstand nachholen kann, müsste man wissen, woher er kommt und in welchem Alter er die menschliche Zivilisation verlassen hat .... Haben Sie Nachforschungen in der Region angestellt?«
    »Noch nicht.«
    »Ich glaube, man hat ihn ausgesetzt. Juan ist ein Kind, das nicht gewollt wurde. Ein Kind, das nie geliebt wurde.«
    »Wieso sind Sie sich da so sicher?«
    »Weil ein umsorgtes, von seinen Eltern gut genährtes Kind im Wald nicht überlebt hätte. Die Zähigkeit Juans beweist, dass sein Leben schon unter den Menschen hart gewesen ist. Stellen Sie Nachforschungen an. Ich bin mir fast sicher, dass Sie auf die Spur eines Verbrechens stoßen werden. Einen Fall von familiärer Gewalt ...«
    Jeanne brach die Lektüre ab. Die Zeilen tanzten vor ihren Augen. Außerdem war die Abschrift des Dialogs zu Ende. Sie sah auf die Uhr – eine Swatch, die sie als Ersatz für die verschenkte Cartier aus ihrer Tasche gefischt hatte.
    Fünf Uhr morgens.
    Sie war erstaunt, dass sie nichts von Nicolás gehört hatte. Hatte ihm die nächtliche Exhumierung einen so großen Schrecken eingejagt? Hoffentlich war er nicht mit »seinem« Auto nach Antigua zurückgefahren ...
    Jeanne wollte sich im Bad erfrischen, einen weiteren grünen Tee bereiten und die Lektüre fortsetzen.
    Aber eine Sekunde später schlief sie tief und fest.

 
    60
    Jeanne fuhr aus dem Schlaf auf – in ihrem Kopf hallte der schreckliche Schrei eines Brüllaffen wider. Sie richtete sich auf und stellte fest, dass das Gegrunze das Läuten ihres Handys war, das neben ihrem Kopf lag.
    »Hallo?«
    »Reischenbach. Hab ich dich geweckt?«
    »Ja. Nein.«
    Sie spürte, wie heftig ihr Herz pochte, so als wolle es sich noch tiefer in den Brustkorb hineinbohren. Joachim hatte sie in ihrem Traum heimgesucht. Seine Schreie. Seine Hände. Seine Augen, die in der Finsternis sahen ...
    »Was willst du?«
    »Hab ich dich also doch geweckt«, erwiderte der Polizist lachend. »Ich hab was über das Paket herausgefunden. Interessiert's dich?«
    Jeanne griff nach dem Laken und trocknete sich das

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