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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Hut. Trotzdem kann man in diesen Momenten den Menschen hinter der Fassade des Wilden besser erkennen. Juan hat ein ebenmäßiges Gesicht, zarte Haut und feine Gelenke. Wer ist er?
    29. Mai 1981
    Eine Woche Untersuchungen und Beobachtungen. Eine bedrückende Bilanz. Malaria. Massiver Befall mit Parasiten im Verdauungstrakt. Mehrere Infektionen. Tomás hat eine Rosskur mit Antibiotika verordnet. Jetzt müssen wir abwarten.
    Was sein Verhalten betrifft, gibt es auch nichts Erfreuliches zu vermelden. Juan kauert die ganze Zeit in einer Ecke des eingezäunten Geländes und stöhnt. Sein Gesicht verbirgt er hinter seinen Haaren, die wir recht lang gelassen haben. Bald möchte ich mit seiner Erziehung beginnen. Aber ich muss von null anfangen. Ihm erst mal den aufrechten Gang beibringen. Nur in einem Punkt bin ich mir sicher: Dieses Kind ist ein Geschenk Gottes. Ich bin entschlossen, es zu retten.
    6. Juni 1981
    Keinerlei Fortschritte. Juan reagiert nicht auf äußere Reize. Weigert sich, aufrecht zu stehen. Wird immer kraftloser. Er wacht nur auf, um zu essen. Ich habe seine Lieblingsspeise entdeckt, die er bestimmt auch unter den Brüllaffen verzehrte: Datteln. Tomás meint, wir müssten ihm unbedingt Fleisch geben, um sein Wachstum zu stärken.
    7. Juni 1981
    Heute Nacht bin ich zu Juan gegangen. In diesem Moment sind ganze Scharen von Vampirfledermäusen über unser Vieh hergefallen. Man sieht sie nicht, aber man hört das Flattern ihrer Flügel.
    Vor dieser Geräuschkulisse habe ich Juan aufgesucht. Er schlief nicht. Er sah sich nach allen Seiten um. Ruhig. Sein Blick durchdrang die Finsternis. Plötzlich begriff ich, dass er im Dunkeln sieht. Ich bekam Angst. Für mich wurde er zu einem der Vampire, die in meinem Rücken fiepten und über die Büffel herfielen.
    16. Juni 1981
    Seit drei Tagen hält sich Carlos Estévez, ein Ethologe aus Resistencia, im Waisenhaus auf. Er ist ein Experte für Brüllaffen, und dank seiner Kenntnisse können wir Juans Verhalten besser verstehen.
    Heute Morgen hat er bei einem Matetee Bilanz gezogen. Ich habe unser Gespräch auf Tonband aufgezeichnet. Wort für Wort habe ich hier die Passage festgehalten, die sich mit Juan befasst ...
    Jeanne rieb sich die Augen. Es war vier Uhr früh. Die Dimensionen dieses Falles wurden immer abenteuerlicher. Gleichzeitig passten all diese Elemente hervorragend zu den Morden. Den Indizien. Dem Profil des bestialischen Mörders ...
    Sie brühte sich einen weiteren grünen Tee auf. Dabei erinnerte sie sich an ihr Gespräch mit Hélène Garaudy. Die Leiterin des Bettelheim-Instituts war auch auf Wolfskinder zu sprechen gekommen. Laut ihren Ausführungen wiesen die meisten von ihnen Symptome einer autistischen Erkrankung auf. Doch es blieb die Frage: Hatte das Leben im Wald ihre Krankheit verursacht? Oder verhielt es sich umgekehrt: Hatte man diese Kinder ausgesetzt, weil sie anders waren?
    Jeanne trank einen Schluck Tee. Die Kälte spürte sie nicht mehr, ebenso wenig ihre Müdigkeit. Tatsächlich spürte sie ihren ganzen Körper nicht mehr. Sie machte es sich wieder auf ihrem Bett bequem und nahm das in Leder eingebundene Heft zur Hand. Immer wieder musste sie an Märchen denken, in denen Kinder in einem Wald ausgesetzt werden, der voller Gefahren ist.
    Juan war der Held eines dieser Märchen.
    Ein Albtraum, der Wirklichkeit geworden war ...

 
    59
    »Im Englischen heißen sie black howler monkeys . Es ist die Affenart, die in den subtropischen Wäldern der Region Noreste am weitesten verbreitet ist. Die Männchen tragen ein schwarzes Fellkleid, die Weibchen ein gelbes.«
    »Wo genau leben sie?«
    »In den Wipfeln. Mit Hilfe ihres Schwanzes schwingen sie sich von Baum zu Baum. Sie steigen fast nie auf den Boden hinab.«
    »Glauben Sie, dass Juan mit ihnen auf den Bäumen lebte?«
    »Es dürfte ihm schwergefallen sein, ihnen zu folgen. Dagegen konnte er ihnen am Boden nützlich sein – beim Sammeln bestimmter Früchte und der Ausschau nach Raubfeinden.«
    »Ich gehe nie in den Wald. Weshalb werden sie ›Brüllaffen‹ genannt?«
    »Es ist eine sehr aggressive Art. Jede Horde hat ihr eigenes Territorium. Sobald sie einen Eindringling ausmachen, verteidigen sie dieses Revier durch lautes Brüllen. Es hört sich schrecklich an. Außerdem dehnt sich beim Brüllen ihre Mähne aus, und sie runden ihr Maul zu einem ›O‹, was ihnen ein erschreckendes Aussehen verleiht. Wenn Juan schreit, will er sie offenbar nachahmen.«
    »Im Moment kann er sich nur auf

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