Im Wald der stummen Schreie
Gesicht ab. Trotz der Kälte war sie schweißgebadet. Der Morgen graute. Um sie herum vertraute Gegenstände. Ein Fernseher. Ein Sessel. Die Holzvertäfelung an den Wänden ... Das spanische Wort für »Albtraum« – pesadilla – kam ihr in den Sinn; der Wohlklang schien dem bezeichneten Sachverhalt etwas von seiner Gewalt, seiner latenten Bedrohlichkeit zu nehmen ...
»Ich höre. Weißt du, was in dem Paket war?«
»Ein Schädel.«
»Was?«
»Der Abguss eines Schädels.«
Diese Information schien keinen Sinn zu ergeben.
»Erzähl mir mehr.«
»Mehr weiß ich nicht. Wir haben mit einem Typen des Instituts gesprochen, der gesehen hat, wie de Almeida den Gegenstand eingepackt hat. Das ist alles. Offenbar wollte der Anthropologe diesen Abguss an Francesca Tercia schicken. Zu welchem Zweck weiß keiner. Wahrscheinlich hatte es was mit den Grabungen zu tun, die er in der argentinischen Nordost-Region durchführte. Aber er sprach mit niemandem darüber. Der Einzige, der uns weiterhelfen könnte, ist ein gewisser ...« Reischenbach kramte in seinen Papieren. »Daniel Taïeb, der Direktor der Abteilung für paläoanthropologische Grabungen in Tucumán. Aber er bereitet gegenwärtig eine Ausstellung vor und ist nie erreichbar.«
»Weißt du sonst nichts über den Schädel?«
» Nada. Der Typ, mit dem wir gesprochen haben, glaubt, dass es sich um einen missgebildeten Kinderschädel handelte.«
»Was für eine Missbildung?«
»Keine Ahnung. Ich hab nichts verstanden. Der Typ aus meiner Gruppe ist Brasilianer, und er spricht nicht besonders gut Spanisch ...«
Jeanne dachte an Juan-Joachim. War es sein Schädel? Nein. Das Kind war nach Argentinien in Guatemala gewesen. War Juan anschließend in die Region Noreste zurückgekehrt? War er dort gestorben? Nein. Joachim war noch am Leben. Er hatte in Paris und in Managua gemordet.
»Gib mir die Nummer des Instituts«, sagte sie.
»Ich warne dich, sie sind nicht ...«
»Ich spreche Spanisch. Ich stecke bis zum Hals in dieser Sache drin. Gib mir die Nummer!«
Reischenbach kam ihrer Bitte nach. Sie notierte die Ziffern. Fragen stürzten auf sie ein. Woher genau kam dieser Schädel? Warum hatte de Almeida ihn an Francesca geschickt? Jeanne erinnerte sich, dass Isabelle Vioti mit ihren Mitarbeitern in ihrem Atelier auf der Basis fossiler Schädel Gesichter rekonstruierte. Hatte Francesca in ihrem eigenen Atelier die gleiche Methode angewandt? Welches Gesicht hatte sie rekonstruiert? Welche Szene hatte sie anhand dieses Relikts dargestellt?
»Hast du sonst noch Neuigkeiten?«
»Ich hab Recherchen über Jorge de Almeida angestellt. Es ist unklar, woran er genau arbeitete. Er schottete sich in seinem eigenen Labor immer mehr von den anderen ab. Er schien Hirngespinsten nachzujagen ...«
»Was für Hirngespinsten?«
»Hab ich nicht verstanden. Ich hab ein Foto von ihm aufgetrieben.«
»Kannst du mir das per E-Mail schicken?«
»Kein Problem. Und du, wie weit bist du?«
Sie hatte keine Lust, lang und breit zu erzählen. Zu viele Ereignisse. Zu viele Unstimmigkeiten. Zu viel Wahnsinn ... Also zog sie sich mit einigen vagen Floskeln aus der Affäre und versprach, sich bei ihm zu melden. Reischenbach bohrte nicht nach.
Noch ein Tee. Sie wusste nicht, wie spät es war. Da war nur dieses Morgengrauen, das sich im Zimmer ausbreitete wie das Wasser eines toten Flussarms ... Sie dachte wieder an die Krankheit, auf die Eduardo Manzarena hingewiesen hatte. Hatte sich Juan damit angesteckt? Oder war es umgekehrt? Ging das Übel von ihm aus? Gab es einen Zusammenhang mit den Missbildungen des Schädels?
Mit der Tasse in der Hand trat sie an die Fenstertür. Den Strom der Fragen anhalten. Das Heft von Pierre Roberge zu Ende lesen. Und dann? Sie betrachtete den Garten des Hotels. Wirre Vegetation. Von Sturmböen abgerissene Bananen- und Palmenblätter ... Die Trostlosigkeit des Regens ...
Und diese Trostlosigkeit flößte ihr einen niederschmetternden Gedanken ein. Kein Zweifel, Antoine Féraud war tot. Wie Eduardo Manzarena. Wie die drei Mordopfer in Paris.
Féraud, der die Verfolgung des Vaters und des Sohnes aufgenommen hatte, aber dem Geist des Bösen begegnet war.
Sie musste die Geschichte von Juan-Joachim zu Ende lesen ...
Vielleicht befand sich die Wahrheit am Ende dieser Seiten.
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28. Juni 1981
Keine Fortschritte. Trotz der Beobachtungen von Carlos Estévez bestätigt sich mein erster Eindruck. Autismus.
Ich habe mir per Post mehrere Bücher bestellt.
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