Im Wald der stummen Schreie
nur noch Fleisch. Beunruhigender ist ein anderer Vorfall: Er wurde in der Küche erwischt. Er hatte die Vorhängeschlösser an den Kühlschränken aufgebrochen, um rohes Fleisch zu verzehren. Als man ihn daran zu hindern versuchte, hat er wie eine Raubkatze die Zähne gefletscht. Woher kommt dieser Blutdurst bei ihm?
Die übrige Zeit verbringt Juan mit Zeichnen. Immer schwarze Figuren. Immer das Messer. Wenn er hier den Mord an seiner Mutter darstellt, warum zeichnet er dann so viele Menschen? Juan singt nicht mehr, aber wie mir scheint, steht er kurz davor, Silben auszusprechen.
17. Dezember 1981
Juan bereitet mir Sorgen. In dem Maße, wie seine tierischen Verhaltensweisen zurückgehen, kommen Züge seiner menschlichen Persönlichkeit zum Vorschein. Charakteristische Eigenschaften, die nicht auf seine Erlebnisse bei den Affen zurückgeführt werden können und ziemlich beängstigend sind. Mehrfach habe ich ihn dabei erwischt, wie er kleine Tiere folterte und sich regelrecht Mühe gab, ihr Martyrium möglichst in die Länge zu ziehen.
Auch gegenüber den anderen Waisenkindern wird er gewalttätig – sie fürchten ihn deshalb und gehen ihm aus dem Weg. Er greift sie an, stellt ihnen Fallen. Gestern hat er ein kleines Mädchen verletzt, indem er es zu einer Art Grube in der Nähe des Waisenhauses lockte, die er selbst ausgehoben hatte. Am Boden der Grube hatte er zugespitzte Bambusstöcke verankert, die das Mädchen am Oberschenkel verletzten, es aber genauso gut hätten töten können. Weshalb macht er das? Er scheint nur mir zu vertrauen. Und vielleicht noch nicht einmal das ...
Eine weitere gefährliche Neigung: Juan fühlt sich zum Feuer hingezogen. Er kann stundenlang Flammen beobachten. Wiederholt wurde er dabei ertappt, wie er mit Streichhölzern spielte. Auch in dieser Hinsicht fürchte ich das Schlimmste.
Diese Tendenzen bekümmern mich. Mit seiner Krawatte und seiner schwarzen Jacke ähnelt er einem kleinen Charlie Chaplin, der die Seele eines Dämons in sich trägt. Ich bete immer wieder: »Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen, und ihre Flügel bringen Heilung ...«
26. Dezember 1981
Erneuter Besuch von Pellegrini. Er will das Kind mitnehmen. Er sagt, er hätte neue Adoptiveltern für Juan gefunden. Offenbar hat er entsprechende Befehle erhalten. Der Mann, der Juan adoptieren will, besitzt Macht. Zweifellos ein Offizier. Ich ahne, ohne dass ich es näher begründen könnte, dass sich hinter all dem ein Geheimnis verbirgt.
3. Januar 1982
Zum neuen Jahr hat mir Gott ein wunderbares Geschenk gemacht. Heute Morgen habe ich Juan in der Kirche entdeckt. Er saß vor dem Altar und hat gesungen. Nicht wie sonst vor sich hingesummt, sondern ein richtiges Lied gesungen. Mit Wörtern! Zum ersten Mal habe ich aus seinem Mund artikulierte Silben gehört. Ich habe das Lied erkannt: ein Schlager, der vor einigen Jahren populär war und den ich bereits den Kindern im Missionshaus in Brüssel beibrachte: Porque te vas , interpretiert von einer englisch-spanischen Sängerin namens Jeanette.
Wo hat er dieses Lied gelernt? Das ist nicht so wichtig. Meine Überzeugung – und meine Hoffnung – erhärtet sich: Joachim leidet nicht an irreversiblem Autismus. Der Wald hat seine menschlichen Fähigkeiten lediglich unterdrückt. Ich muss ihn bei mir behalten. Seine Erziehung fortsetzen. Im Namen Gottes. »Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit ...«
17. Januar 1982
Juan hat gesprochen. Auf einmal. Mühelos. Ich wusste es. Ich habe es immer gewusst. Die Sprache ist in ihm. Juan ist kein autistisches Kind. Oder aber sein Syndrom ist das, was man in meinen Büchern einen »hochentwickelten Autismus« nennt. Ich muss ihm jetzt auf der Basis dieser Fortschritte weitere Fähigkeiten beibringen. Lesen, Schreiben, Beten. Ich werde, mit ihm, die Schlacht gewinnen.
25. Januar 1982
Zügige Fortschritte. Juan leidet an keinem Sprachfehler – auch wenn er noch immer zum Stottern neigt. Er spricht die Sätze klar und deutlich aus. Ich beginne mich mit ihm zu unterhalten. Sein Umgang mit der Sprache ist eigentümlich. Er scheint nicht in der ersten Person sprechen zu können. Um eine Frage mit ja zu beantworten, wiederholt er sie. Dann wieder antwortet er mit einer Folge von Wörtern. Oftmals ist es der Text von Porque te vas . Ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat.
Im Moment sind seine
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