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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Insbesondere die Memoiren von Jean Marie Gaspard Itard, dem Arzt, der das Wolfskind von Aveyron in seine Obhut nahm. Ich bin fest davon überzeugt, dass Juan zumindest eine Zeitlang von Menschen aufgezogen wurde. So war er nicht im Geringsten erstaunt, als er sein Spiegelbild sah. Und vor allem hat er begriffen, dass es sein Spiegelbild ist. Es schien ihn zu amüsieren.
    31. Juni 1981
    Neue Tests, neue Übungen. Es gelingt mir sehr langsam, ihm den aufrechten Gang beizubringen. Er macht einige Schritte auf zwei Beinen und kehrt dann in seine bevorzugte Haltung zurück: auf allen vieren, mit gewölbtem Rücken, die Hände einwärts gedreht. Ich muss meine Arbeit fortsetzen. Wie schrieb Paulus doch: »Die Liebe ist geduldig ...«
    13. Juli 1981, Río Bermejo
    Río Bermejo, der Purpurfluss. Seit zwei Tagen bin ich in der Umgebung von Campo Alegre auf einem Schiff unterwegs. In jedem noch so kleinen Dorf mache ich halt ... Ich predige. Verteile Lebensmittel und Medikamente. Höre zu. Tröste ...
    Mir wird klar, dass die Leute hier von der Existenz Juans wussten. Er war schon an mehreren Stellen am Fluss gesichtet worden. Ein- oder zweimal hatte man ihn sogar eingefangen. Jedes Mal ist er geflohen.
    29. Juli 1981, Campo Alegre
    Fortschritte in schneller Folge. Juan geht auf zwei Beinen. Aber noch immer nach vorn gebeugt, als hätte er Angst, sich ganz gerade zu halten. Er lernt Gesten. Zieht sich allein an. Trinkt Milch aus einer Schale. Deutet mit dem Zeigefinger auf Gegenstände... Ich lasse ihn im Hof des Pfarrhauses frei umhergehen, und ich habe es geschafft, ihn dazu zu bringen, in einem Bett zu schlafen – tatsächlich streckt er sich darunter aus, um einzuschlafen.
    3. August 1981
    Juan geht es viel besser. Er nimmt zu. Seine Muskulatur entwickelt sich. Er geht jetzt gewohnheitsmäßig aufrecht. Homo viator, spe erectus. Die Hoffnung hält den Menschen auf dem Weg, aufrecht und tapfer.
    11. August 1981
    Die ersten Bücher, die ich bestellt habe, sind eingetroffen. Vor allem das Tagebuch von Itard. Ich folge seiner Methode, praktiziere seine pädagogischen Übungen. Juan erzielt gute Erfolge. Wenn nicht das Problem mit seinem mündlichen Ausdrucksvermögen wäre, würde ich sagen, dass er die Intelligenz eines fünfjährigen Kindes besitzt. Im Moment.
    Gestern machte ich eine interessante Beobachtung. Im Garten sitzend, wiegte sich Juan wie üblich vor und zurück. Ich näherte mich: Er sang eine bestimmte Melodie. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er versuchte, Worte zu artikulieren. Kehren seine Erinnerungen aus der Zeit vor dem Leben im Wald zurück?
    21. September 1981
    Die Zeit vergeht. Er macht immer größere Fortschritte. Zum ersten Mal hat Juan Fleisch gegessen. Er hat zuerst daran geschnuppert, dann davon probiert und es sogleich verschlungen. Ich ging zu ihm und wollte ihn dafür loben. Als er zu mir aufsah, hab ich einen Schreck bekommen. Er hatte einen irren Blick. Wie wenn ihn der Blutgeschmack berauscht hätte. Er schien mich aus den Tiefen des animalischen Lebens anzustarren ...
    10. Oktober 1981
    Jede Mahlzeit von Juan enthält auch ein Stück Fleisch. So mag er es am liebsten. Zu Recht oder zu Unrecht sehe ich in dieser Vorliebe die Erinnerung an eine Erziehung durch Menschen. Im Übrigen macht er weiterhin gute Fortschritte, insbesondere mit Holzbuchstaben. Wird er eines Tages schreiben lernen?
    Jeanne war enttäuscht. Roberges Tagebuch beschrieb lediglich die Fortschritte eines Kindes, dessen kognitive Entwicklung durch die Lebensumstände im Wald zum Stillstand gekommen war. Sie kannte das Ergebnis dieser erzieherischen Bemühungen: Joachim war zu einem normalen jungen Mann geworden, der jedoch in seinem Innern der Wolfsmensch von früher geblieben war.
    Ansonsten erfuhr sie nichts über die Abstammung Joachims – wann war ihm dieser Name gegeben worden? Nichts über seinen Vater, der die Praxis von Antoine Féraud aufgesucht hatte. Nichts über die Umstände seiner Aussetzung im Wald.
    Nichts über seine mörderische Natur ...
    Wieder übersprang sie mehrere Seiten.

 
    62
    17. November 1981
    Juan zeichnet! Er malt schwarze Striche, X und Y in unterschiedlichen Größen. Es könnten Buchstaben sein. Oder Bäume. Oder Menschen. Vielleicht versucht er die Welt – die Affenhorde – darzustellen, die ihn in den letzten Jahren umgeben hat ... Aber ein Detail passt nicht. Wenn diese Figuren caráyas darstellen, wieso hält dann eine davon ein Messer?
    26. November 1981
    Juan hat eine Krawatte

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