Im Wald der stummen Schreie
gefunden, die er Tag und Nacht trägt. Wie um seine Vergangenheit zu beschwören und zu zeigen, dass er durchaus zur Gesellschaft der zivilisierten Menschen gehört.
Dennoch gelingt es ihm nicht immer, mit Besteck zu essen. Wenn ihm das Essen vorgesetzt wird, winkelt er die Arme an, steckt den Kopf in den Teller und wirft verängstigte Blicke um sich. Er isst nur noch Fleisch. Datteln, Körner oder sonstige pflanzliche Lebensmittel rührt er nicht mehr an.
29. November 1981
Heute habe ich unerwartet Besuch bekommen. Gerade als ich den Plan aufgegeben hatte, die ursprüngliche Herkunft Juans aufzuklären, hat sich ein Mann erboten, mir Informationen auf dem silbernen Tablett zu servieren. Und nicht irgendeiner! Oberst Vinicio Pellegrini alias El Puma, einer der Kommandanten der Militärbasis von Campo Alegre.
Die Statur des Mannes passt zu seinem Dienstrang. Er trägt einen Bürstenschnitt und hat ein kantiges Gesicht, einzig das Brillengestell und der elegant gestutzte Bart verleihen ihm einen Hauch von Kultiviertheit. Ansonsten ein Rohling, der laut spricht, viel lacht und abwechselnd Leutseligkeit und eisige Kälte ausstrahlt.
In der Region besitzt der Mann eine traurige Berühmtheit. El Puma hat hier die berüchtigte Methode des el vuelo umgesetzt: Gefangene, von denen man sich keine weiteren Informationen mehr erhofft, werden betäubt und dann aus einem Hubschrauber über den verschlungenen Ästen der Lagune abgeworfen, damit sie ertrinken oder von den Kaimanen gefressen werden. Doch es heißt, dass Menschen normalerweise nicht auf dem Speiseplan dieser Tiere stehen, weil sie zu groß sind. Deshalb hat Pellegrini befohlen, die Opfer mit einer Säge zu zerlegen und die Leichenteile in die Sümpfe zu werfen. Allmählich haben die Kaimane Geschmack an Menschenfleisch gefunden. So konnte man wieder damit beginnen, betäubte Gefangene abzuwerfen ...
Als er seinen Besuch ankündigte, glaubte ich, meine letzte Stunde habe geschlagen. Aber nein. Pellegrini erkundigte sich nach Juan! Er hat mich nach den Umständen seiner Auffindung gefragt. Die Wahrheit kam schnell heraus. Juan stammt aus der Militärbasis. Er ist der Sohn von Hugo García, einem Offizier, der vor drei Jahren mit seiner Frau bei einem Unfall ums Leben kam, über den sich Pellegrini nicht näher äußern wollte. Juan – den der Oberst »Joachim« nennt – hat diesen Unfall überlebt und ist in den Dschungel geflohen.
El Puma hat nicht verlangt, ihn zu sehen. Er teilte mir auch nicht mit, was für Pläne er mit dem Kind hat. Doch er hat versprochen wiederzukommen ...
Jetzt versuche ich die Tatsachen zu ordnen. Ein Beispiel: Die von Juan alias Joachim (ich habe beschlossen, ihn weiterhin Juan zu nennen, um ihn nicht zu verwirren) gezeichneten Figuren sind vielleicht keine Brüllaffen, sondern Soldaten aus Campo Alegre, professionelle Folterer. Aber wozu das Messer?
2. Dezember 1981
Ich habe weitere Nachforschungen angestellt. Wenn man weiß, was man sucht, sind die Chancen höher, dass man fündig wird. In der Spelunke des Dorfes – wo sich die Soldaten gelegentlich besaufen – habe ich rasch das Vertrauen eines Gefreiten gewonnen, der mir das Geheimnis der Basis verraten hat. Hugo García, ein notorischer Säufer, hat 1978 seine Frau umgebracht und sich dann die Kehle aufgeschlitzt. Ihr Sohn Joachim konnte mit knapper Not fliehen. Er war erst sechs Jahre alt ... Juan ist also jetzt neun. Zweiter Punkt: Estévez hatte Recht mit seiner Vermutung, dass Juan keine leichte Kindheit hatte.
Bei der Befragung des Soldaten, dem ich ein paar Drinks spendierte, erfuhr ich etwas Unglaubliches: Joachim ist nicht der leibliche Sohn von Hugo García. Er wurde adoptiert. Solche Fälle sind hier nicht selten. Es kommt häufig vor, dass die Soldaten die Kinder hingerichteter politischer Gefangener adoptieren. Es scheint sogar eine gängige Praxis zu sein. Juan kam also auf dem Stützpunkt von Campo Alegre zur Welt. Der kinderlose García hat den Säugling an sich genommen, aber seine unfruchtbare und ebenfalls alkoholabhängige Frau hat das Kind nie angenommen. Wegen ihm gab es ständig Konflikte zwischen den beiden. Ich wage mir die psychische Entwicklung des Kindes kaum auszumalen. Ein Waisenkind, das von seiner Adoptivfamilie abgelehnt wurde und in einer Kaserne lebte, wo Tod und Gewalt an der Tagesordnung waren ...
9. Dezember 1981
Juans Appetit nimmt immer weiter zu. Ich versuche, seinen Speiseplan etwas abwechslungsreicher zu gestalten, aber er isst
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