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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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gemietet und bin nach Antigua gerast. Dort bin ich kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Sie ist nicht besonders groß. Schließlich habe ich Sie entdeckt, als Sie gerade aus der Kirche Nuestra Señora de la Merced kamen.«
    »Sah ich hysterisch aus?«
    Féraud lächelte.
    »Eher heroisch. Ich hab Sie nicht mehr aus den Augen gelassen.«
    Der Psychiater schwieg. Es war der Moment der Entscheidungen. Freunde oder Feinde? Verbündete oder Rivalen? Im Innern frohlockte Jeanne. Sie war nicht mehr allein. Sie würde ihre Nachforschungen mit dem attraktivsten Pariser Psychiater fortsetzen, der es zudem nicht an Komplimenten mangeln ließ ...
    Bemüht, ihre Freude zu verbergen, fragte sie in dem kühlen Ton einer Richterin:
    »Und zu welchem Schluss sind Sie gelangt?«
    »Der Vater und der Sohn werden ihre Reise fortsetzen. In Argentinien. In Mittelamerika haben sie alle Spuren beseitigt, was das Blut anlangt. Sie werden dort unten das Gleiche tun, was den Schädel betrifft.«
    »Da haben Sie wohl Recht.«
    Jeanne wies auf Férauds Tasche, in der sich der Abguss befand.
    »Was wissen Sie über diesen Schädel?«
    »Im Atelier von Francesca fand ich die Telefonnummer des Paläontologen, der ihr den Schädel geschickt hatte.«
    »Jorge de Almeida.«
    »Er ging nicht ans Telefon. Ich habe bei dem Institut in Tucumán angerufen und mit dem Assistenten von Daniel Taïeb, seinem Chef, gesprochen.«
    »Da hatten Sie aber Glück.«
    »Sie erzählte mir, dass de Almeida mehrere Expeditionen in den Wald der Manen unternommen hat und dabei jedes Mal seltsame Fundstücke mitbrachte. Von seiner letzten Exkursion sei er noch immer nicht zurückgekehrt. Laut der Assistentin wirkte er in den letzten Monaten geradezu überschwänglich. Er glaubte, eine revolutionäre Entdeckung gemacht zu haben.«
    »Der Schädel?«
    »Ja, und andere Fragmente von Fossilien.«
    »Was soll das Revolutionäre an diesen Knochenfunden sein?«
    »Sie stammen von archaischen Homo sapiens sapiens. Der fragliche Schädel soll Merkmale des Proto-Cro-Magnon-Men-schen aufweisen: fliehendes Kinn, vorstehende Augenbrauenbögen und Kiefer ... Diese affenähnlichen anatomischen Merkmale sollen beweisen, dass schon vor 300 000 Jahren ›Frühmenschen‹ auf dem amerikanischen Kontinent lebten.«
    »Das ist unmöglich«, sagte Jeanne, die sich an die chronologische Übersicht von Isabelle Vioti erinnerte. »Die Homo sapiens sapiens sind viel später in Amerika eingetroffen.«
    »Das hat auch der Forscher gesagt. Aber es kommt noch besser. De Almeida behauptete, das tatsächliche Alter der gefundenen Knochenreste, insbesondere des Schädels, ermittelt zu haben.«
    »Und?«
    »Nicht einmal zwanzig Jahre.«
    Jeanne konnte es nicht fassen. Genauer gesagt: Sie wollte es nicht begreifen. Dabei ahnte sie diese Wahrheit schon seit mehreren Stunden.
    Antoine Féraud brachte es auf den Punkt:
    »Diese Proto-Cro-Magnon-Menschen existieren noch immer, Jeanne. Sie haben im Wald der Manen überlebt.«

III.
    Das Volk

 
    65
    Sie drehte den Kopf und sah durch das Seitenfenster. Der Flügel des Flugzeugs neigte sich hinunter zu der riesigen Stadt, die zwischen den Wolken zum Vorschein kam: Buenos Aires. Die Rückkehr in diese Stadt, in die sie sich damals auf ihrer Tour durch Lateinamerika geradezu verliebt hatte, hätte Jeanne gern voll und ganz ausgekostet. Aber sie hatte den Kopf nicht frei. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an die unglaubliche Hypothese, die das Kapitel Mittelamerika beschlossen hatte: die Existenz eines archaischen Volkes am Ufer einer Lagune in der argentinischen Region Noreste.
    Die Indizien waren da. Vielleicht sogar die Beweise ... Doch Jeanne konnte sich nicht mit dieser Vorstellung anfreunden. Eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Hin und wieder wurde in Zeitschriften oder im Fernsehen über Stämme berichtet, die völlig abgeschnitten von der Zivilisation lebten. Ureinwohner, die den »weißen Menschen« praktisch noch nie zu Gesicht bekommen hatten. In Amazonien, in Papua-Neuguinea. Aber Jeanne war genügend in der Welt herumgekommen, um zu wissen, dass solche Entdeckungen heute nicht mehr möglich waren. Nicht im Zeitalter der Satelliten, des Kahlschlags der Wälder, eines massiven Abbaus von Bodenschätzen ...
    Noch etwas anderes erschreckte sie. Das Volk im Wald der Manen, falls es tatsächlich existierte, war nicht bloß irgendein archaischer Stamm, sondern eine gewalttätige, grausame, barbarische Abart des modernen Menschen.

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