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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Kannibalen, die düstere Gottheiten verehrten und deren Lebensweise auf Barbarei und Sadismus beruhte. Blutrünstige Mörder, die bei Zeremonien, die direkt einem Horrorfilm entstammen konnten, Frauen opferten.
    Das Aufsetzen auf der Landebahn riss sie aus ihren Gedanken.
    Aussteigen. Zoll. Abholen des Gepäcks. Am Vortag hatten Jeanne und Féraud beschlossen, sich zusammenzutun. Ohne lang zu diskutieren und ohne die Gefahren ihres Vorhabens zu erwägen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass ihre nächste Etappe Buenos Aires sein würde. In Férauds Wagen waren sie nach Guatemala City zurückgefahren – von Nicolás hatte Jeanne nichts mehr gehört. Noch am gleichen Abend hatten sie sich zum Flughafen La Aurora begeben und einen Flug nach Miami erwischt. Nach einigen Stunden Schlaf in einem Hotel waren sie am nächsten Morgen um 7.15 Uhr mit einer Maschine der Aerolinas Argentinas nach Buenos Aires geflogen.
    Sie hatten genug Zeit, um sich ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Jeanne hatte sich im besten Licht dargestellt und alles unter den Teppich gekehrt, was einen schlechten Eindruck machen konnte. In der Reihenfolge: die Ermordung ihrer älteren Schwester, ihre Faszination für Gewalt, ihre demente Mutter, ihre eigene Depression, ihre Unfähigkeit, länger als ein paar Monate mit einem Typen zusammenzubleiben ... Antoine Féraud hatte so getan, als würde er diese bereinigte Version glauben, auch wenn er zweifellos den Verdacht hegte, dass sie einiges geschönt hatte. Schließlich war das Unausgesprochene sein Job.
    Er wiederum tat so, als hätte er den makellosen Lebensweg eines Hochbegabten hinter sich. Bürgerlich behütete Kindheit in Clamart. Abitur mit siebzehn. Abschluss des Medizinstudiums mit dreiundzwanzig. Drei Jahre später Facharzt für Psychiatrie. Promotion. Anschließend Dozent an der Fakultät von Sainte-Anne und Tätigkeit als Psychiater in derselben Klinik. Vor fünf Jahren hatte er eine eigene Praxis eröffnet und hielt nur noch eine wöchentliche Sprechstunde in Sainte-Anne ab. Angeblich hatte er sich nicht wegen des Geldes selbstständig gemacht, sondern wegen der »geschützten, intimen Atmosphäre«, wie er es nannte. Er beobachtete, ergründete und behandelte Tag für Tag die üblichen Neurosen der Pariser.
    Ansonsten nichts Erwähnenswertes. Mit siebenunddreißig Jahren war Antoine Féraud weder verheiratet noch liiert, und er war es auch noch nie gewesen. Zumindest behauptete er das. Seine ganze Leidenschaft galt seinem Beruf. Er lebte für die Psychiatrie, die Psychoanalyse und diesen berühmten Mechanismus der Väter , von dem er Jeanne bereits erzählt hatte. Jedem Verbrechen liegt ein väterliches Versagen zugrunde ... In dieser Hinsicht war Joachim ein Musterfall. Aber wer war sein ödipaler Vater? Hugo García? Der Klan im Wald? Alfonso Palin? Oder sein leiblicher Vater, zweifellos ein politischer Gefangener, der in den Kerkern von Campo Alegre umgebracht worden war? Nur eines war sicher: Joachim war von Gewalt geprägt. Er war ihr Kind, und er lebte für sie.
    Jeanne hatte Féraud aufmerksam zugehört. Je länger er sprach, umso weniger glich er dem Mann ihrer Träume. Er wirkte jung, nervös, zerfahren und vor allem unbedacht. Er war sich nicht darüber im Klaren, auf was für ein Abenteuer er sich eingelassen hatte. Ausgerüstet mit seinen Theorien und seinen psychiatrischen Kenntnissen, hatte er nicht begriffen, dass er sich jetzt im wahren Leben bewegte – mit einem echten Mörder und echten Opfern. Das war für Jeanne vertrautes Gelände. Jetzt fürchtete sie, dass er die weiteren Nachforschungen eher behindern als befördern würde ...
    Sie verließen den Passagierterminal des Flughafens Ezeiza und suchten ein Taxi. Bei den ersten Schritten im Freien erlitt Jeanne einen Schock. Zehn Uhr vormittags. Sonne. Die unbeschreiblich kalte Luft ... Im Juni ist es in Argentinien Winter. Aber der Winter hat hier eine sonnige Seite.
    Dicht neben ihr äußerte ein Polizist einige Worte in dem singenden, herzlichen Tonfall, der typisch für Argentinien ist. Es war so, als wäre seinem Mund eine Comicstrip-Sprechblase entwichen. Ein Regen aus Sternen, Glimmerplättchen und Funken ... Trotz der anstrengenden Ermittlungen, auf denen bleischwer der Schatten des Todes lastete, empfand sie eine plötzliche Unbeschwertheit. Vom anderen Ende der Welt ...
    Taxi. Als sie über die Autobahn fuhren, tauchte die Stadt allmählich aus dem Wald auf. Sie schimmerte, funkelte, zitterte. Genauer gesagt,

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