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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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das Motiv für die Morde in Paris.«
    »Sonst noch was?«
    »Aus Juan, dem Wolfskind, ist Joachim geworden, ein fünfunddreißigjähriger Anwalt, der in Paris lebt. Scheinbar unterscheidet ihn nichts von einem waschechten Pariser, aber in seinem Innern verbirgt sich ein Wolfskind, ein Kannibale, der das Geheimnis seines Volkes schützt. Als er erfuhr, dass dieses Geheimnis bedroht war, handelte er.«
    Reischenbach schwieg beharrlich. Sie fuhr fort:
    »Manzarena, der Chef der Blutbank, war in den Besitz einer Blutprobe von einem Angehörigen dieses Volkes gelangt. Er hatte diese an Nelly Barjac geschickt, mit der Bitte, ein Karyogramm zu erstellen. Manzarena interessierte sich brennend für die Vorgeschichte – und die Frage nach dem Ursprung des Bösen im Menschen. Am 31. Mai erhält Nelly Barjac die Probe. In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni liegen die Ergebnisse der Analyse vor. In derselben Nacht bekommt sie Besuch von Joachim. Er tötet sie und nimmt die Proben und die Untersuchungsergebnisse mit.«
    »Woher wusste er, dass Nelly daran arbeitete?«
    »Das weiß ich noch nicht. Meines Erachtens kannte Nelly Joachim. Er arbeitete für mehrere humanitäre Organisationen in Südamerika. Sie hatten irgendeine Verbindung. Sie wusste, dass er aus der Region Noreste in Argentinien stammte. Sie hat ihm von dieser Geschichte erzählt, und sei es andeutungsweise. Das hat sie das Leben gekostet.«
    »Wir haben all ihre telefonischen Kontakte und sämtliche E-Mails überprüft.«
    »Es muss eine andere Verbindung geben. Vielleicht nur ein mündlicher Kontakt. Joachim hat die Gefahr erkannt. Da hat er die Spuren beseitigt.«
    »Weshalb hat er Marion Cantelau aus dem Weg geräumt?«
    »Keine Ahnung. Aber es muss eine Verbindung zwischen den autistischen Kindern des Zentrums und Joachim geben. Marion war auf eine andere Weise eine Bedrohung für das Geheimnis – da bin ich mir sicher.«
    »Und Francesca Tercia?«
    »Bei ihr liegt es auf der Hand. Jorge de Almeida hat ihr einen Schädel geschickt. Dieser Fund muss etwas mit der Vorgeschichte des Volkes in diesem Wald zu tun haben. Erinnere dich: Das Fossil wies Fehlbildungen auf. Zweifellos die affenähnlichen Merkmale einer sehr alten Hominiden-Gattung. François Taine hatte all dies gewusst.«
    »Dann war er ein Genie«, meinte Reischenbach mit unüberhörbarer Ironie.
    »Es war nicht sein Verdienst. Er hatte die Plastik gesehen.«
    »Welche Plastik?«
    »Die Rekonstruktion, die Francesca auf der Grundlage des Schädels angefertigt hatte. In dieser Hinsicht habe ich mich geirrt. Ich hatte geglaubt, es wäre ein Werk, das die Bildhauerin allein aus ihrer Phantasie erschaffen hat. Tatsächlich ist es eine anthropologische Rekonstruktion nach dem Schädel, den ihr der Paläoanthropologe zukommen ließ. Genau das, was sie auch in Viotis Atelier gemacht haben. Sie arbeitete heimlich in ihrer Wohnung, weil es sich um eine echte Sensation handelte. Als ich François Taine aus den Flammen zu retten versuchte, habe ich die Statue gesehen – er hatte sie aus Francescas Wohnung mitgenommen. Ich dachte, es wäre ein lebender Mensch mit affenartigem Aussehen ...«
    »Aber die Sache hat noch immer einen Haken. Woher wusste Joachim von den Arbeiten Francescas?«
    »Joachim und Francesca kannten sich. Sie sind beide Argentinier.«
    »Argentinien ist groß.«
    »In Paris wohnen nicht so viele Argentinier.«
    Erneutes Schweigen. Reischenbach überlegte.
    »Also haben wir drei Kannibalen-Morde, die von einem Verrückten begangen wurden, der sich für einen prähistorischen Menschen hält. Ein Irrer, dessen einziges Motiv ein Tropfen Blut und ein Schädel wäre?«
    »Nicht irgendein Blut. Nicht irgendein Schädel. Überreste, die die Existenz eines Volkes beweisen, das von einer archaischen Frühform des Menschen abstammt. Der Schädel beispielsweise muss dem Schädel des Proto-Cro-Magnon-Menschen gleichen, dessen Überreste im Nahen Osten und in Europa gefunden wurden.«
    »Wie dieser da?«
    Jeanne erstarrte. Ein Schädel war gerade auf ihrem Bett gelandet. Gleichzeitig ertönte eine Stimme hinter ihr. In ihrem Zimmer.
    Eine Sekunde lang starrte sie den Knochen mit den schwarzen Höhlen an. Er war ungewöhnlich weiß und schien aus Kunststoff zu sein. Ein Abguss.
    »Jeanne, bist du noch da?«
    Sie antwortete dem Polizisten nicht. Langsam wandte sie sich zu der Stimme um.
    »Jeanne?«
    »Ich ruf dich an«, murmelte sie.
    In der Tür stand Antoine Féraud.
    Mit zerzausten Haaren, zerlumpt,

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