Im Wald der stummen Schreie
durchnässt.
Aber für einen Toten sah er recht gesund aus.
64
Wieder ein Gewitter.
Blitze durchzuckten die Dämmerung draußen und erzeugten dramatische Hell-Dunkel-Effekte, die in einem Sekundenbruchteil die Farben verkehrten.
Negative der Wirklichkeit ...
Jeanne blieb keine Zeit, den Mund aufzumachen. Antoine ergriff das Wort. Da war sie wieder, die verführerische, sanfte, wohlwollende Stimme, die sie von den CDs kannte. Schon lange war ihr nicht mehr so heiß gewesen.
Der Psychiater stellte Fragen. Er wollte wissen, weshalb sie nach Guatemala gekommen war. Und davor in Nicaragua gewesen war.
Féraud wusste also alles.
Und zugleich nichts.
Statt zu antworten, provozierte sie ihn.
»Sind Sie mir gefolgt?«
»Finden Sie nicht, dass Sie die Rollen vertauschen?«, fragte er lächelnd zurück.
»Ich bin Ihnen nicht gefolgt.«
»Aber natürlich. Ich weiß, was Sie suchen. Was ich nicht weiß, ist, wieso Sie sich freiwillig in dieses Wespennest begeben haben. In mein Wespennest.«
Der Zeit der Verstellung und der Lügen war vorbei.
Sie fragte:
»Haben Sie Lust auf einen Tee unten?«
Einige Minuten später hatten sie es sich auf der Glasveranda bequem gemacht, während der Regen auf das Hotelschwimmbad prasselte. Beide Hände um ihre Tasse geschmiegt, beschloss Jeanne, die ganze Geschichte zu erzählen. Ihre Geschichte. Ohne Lüge und ohne Auslassungen. Vom Abhören der Gespräche in der Praxis bis zur Exhumierung des privaten Tagebuchs von Pierre Roberge. Ich werde die Unterwelt aufrütteln ...
Zum Schluss fasste sie ihre Erkenntnisse noch einmal zusammen: Der Mörder hieß Joachim Palin. Er war der Adoptivsohn von Alfonso Palin, einem Admiral, der Mitglied der argentinischen Junta gewesen war. Joachim hatte drei Morde in Paris begangen und in Managua einen, um sein Geheimnis zu schützen: die Existenz der Nachfahren eines urzeitlichen Menschentyps tief in einem Wald in Argentinien ...
Über eine Stunde lang hörte Antoine Féraud ihr schweigend zu. Ohne seine Tasse Tee anzurühren. Der Gedanke, dass man ihn wegen einer banalen »Sexgeschichte« abgehört hatte, schien ihn nicht zu empören, und die Entschlossenheit von Jeanne schien ihn nicht zu erschrecken. Sie ihrerseits fand dieses Gesicht wieder, das sie bei ihrem gemeinsamen Besuch der Ausstellung über die Wiener Secession so berührt hatte. Eine Feinfühligkeit, eine Harmonie der Züge, die sehr gut zu seiner Stimme und seiner aufmerksamen Zugewandtheit passte. Aber eine gewisse Kraftlosigkeit des Gesichtsausdrucks missfiel ihr. Diese Miene passte nicht zu der Willensstärke, die man brauchte, um in einem derartigen Fall auf eigene Faust zu ermitteln.
»Und Sie?«, fragte sie schließlich.
Der Psychiater ergriff das Wort und sprach in einem bedächtigen, leidenschaftslosen Ton, als würde er ein psychiatrisches Gutachten über einen Patienten vortragen:
»Wir sind demselben Täter auf der Spur, Jeanne. Ich bin nicht so begabt, nicht so erfahren wie Sie. Aber ich besaß Informationen, die Sie nicht hatten. Dinge, die mir der Vater persönlich mitteilte. Zunächst einmal ihre Namen: Alfonso und Joachim Palin. Ihre Geschichte in Argentinien, zumindest teilweise. Ich wusste, dass Joachim nach der Tragödie der Garcías aus der Kaserne von Campo Alegre geflohen war und im Wald überlebt hatte – Palin hat mir allerdings nie von einem Volk im Wald der Seelen erzählt. Vermutlich weiß er nichts davon. Die Mordlust seines Adoptivsohns dagegen faszinierte ihn. Alfonso Palin ist ja in gewisser Weise selbst ein Serienmörder.«
Der Vater und der Sohn und der Geist des Bösen.
»Außerdem erfuhr ich von Joachims Plan, nach Nicaragua zu reisen. Sein Vater wusste, dass er dort einen gewissen Eduardo Manzarena treffen wollte.«
»Wann wurde Ihnen klar, dass Joachim ein Mörder ist?«
»Da war zunächst, freitags, die Warnung des Vaters. Zwei Tage später der erste Artikel über die Ermordung Francesca Tercias im Journal du Dimanche. Da wusste ich, dass Alfonso die Wahrheit gesagt hatte. Sein Sohn war zur Tat geschritten. Da er mir nie seine Telefonnummer gegeben hat, konnte ich mich nicht mit ihm in Verbindung setzen. Ich habe die Nummer von Manzarena in Managua ausfindig gemacht, ihn aber nicht erreicht. Da hab ich beschlossen, etwas Riskanteres zu versuchen. Ich bin abends ins Atelier von Francesca Tercia eingedrungen, um nach Indizien zu suchen.«
»Um wie viel Uhr?«
»Um zehn.«
»Sie hätten François Taine über den Weg laufen
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