Im Wald der stummen Schreie
eingesperrt, um einer anderen wichtigen Spur in diesem Fall nachzugehen: dem Schädel, den archaischen Frühmenschen, die möglicherweise überlebt hatten, Jorge de Almeida ... Gegenüber Pellegrini hatte sie den Wald der Seelen und dessen geheimnisvolle Bewohner nicht erwähnt – intuitiv spürte sie, dass er nichts darüber wusste.
Um 16.00 Uhr hatte sie beim Institut für Agrarwissenschaft in Tucumán angerufen. Keiner von den Ingenieuren war da. Noch immer Sonntag. Jeanne hatte nur einen Wachmann erreicht, der sich weigerte, die Privatnummer von Daniel Taïeb oder seinem Assistenten – mit dem Reischenbach gesprochen hatte – herauszurücken. Sie hatte ihm lediglich die Nummer eines Satellitentelefons entlocken können, das mit einer Grabungsstelle in der sechshundert Kilometer von Tucumán entfernten Provinz Jujuy verbunden war. Die Grabungsleiterin war eine gewisse Penélope Constanza, eine Paläoanthropologin.
Nach einigen ergebnislosen Versuchen bekam Jeanne sie schließlich an die Strippe. Die Verbindung war schlecht. Das Pfeifen des Windes ließ darauf schließen, dass sich die Expertin an der Grabungsstelle befand. Jeanne stellte sich eine Wüste vor. Staubhosen. Von der Sonne ausgedörrte Knochen ...
Mit wenigen Worten stellte sie sich vor und kam dann gleich zur Sache:
»Kennen Sie Jorge de Almeida?«
»Nein.«
Guter Anfang. Zwischen zwei Windstößen korrigierte sich die Frau:
»Ich bin ihm nur einige Male begegnet.« Sie musste recht alt sein, denn ihre Stimme zitterte. Oder lag auch dies an der schlechten Verbindung? »Ich bin häufig auf Dienstreisen. Und er ist immer im Gelände.«
»Kennen Sie die Gegend, wo er arbeitet?«
»Nein, das ist der Noreste. Nicht mein Gebiet.«
Jeanne hatte die Karte des Nordens von Argentinien im Kopf. Tucumán lag im Nordwesten, tausend Kilometer von Buenos Aires entfernt. Die Provinz Jujuy lag noch einmal sechshundert Kilometer weiter nördlich. Was die Region Noreste anlangte, musste man ebenfalls tausend Kilometer rechnen, doch diesmal nach Osten. Für argentinische Verhältnisse keine ungewöhnlichen Entfernungen.
»Erinnern Sie sich, wann seine letzten Expeditionen waren?«
»Ich glaube, er ist drei Mal dort gewesen – 2006, 2007 und 2008. Er behauptet, dort eine Grabungszone abgesteckt zu haben. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wieso?«
»Es ist eine Lagune, überflutetes Land.«
»Na und?«
»Es geht um Paläontologie. Es wäre absurd zu hoffen, in einem Gelände, wo alles innerhalb weniger Tage verrottet, Fossilien zu finden. Unsere wichtigsten Verbündeten sind, in chronologischer Reihenfolge, die Trockenheit, die Sedimentbildung und die Verkalkung.«
Daran hatte Jeanne nicht gedacht. Im Schneidersitz auf ihrem Bett kauernd, ließ sie den Blick über die drei Wände gleiten, die sie umgaben. Cremefarbenes, trübes Zimmer. Der Raum erinnerte sie an gewisse, vollkommen schmucklose, kahle Verhörzimmer. Genau das, was ich brauche.
»Es scheint, Jorge de Almeida ist verschwunden.«
»Er hat schon lange nichts mehr von sich hören lassen. Das ist etwas anderes. Nach allem, was man im Labor hört, ist er ein Sonderling.«
»Inwiefern?«
»Er geht ganz allein auf seine Expeditionen. Was das Risiko eines Unfalls oder eines spurlosen Verschwindens deutlich erhöht. Aber im Moment deutet nichts darauf hin, dass ihm etwas passiert ist ... Dort, wo er sich aufhält, gibt es keine Kommunikationsmittel. Wussten Sie, dass man diese Region auch ›El Impenetrable‹ nennt?«
Jeanne antwortete nicht. Sie verfolgte ihren Gedanken weiter:
»Hat er kein Satellitentelefon?«
»Ich weiß nicht, was er an Ausrüstung mitgenommen hat.«
»Was wissen Sie über seine Funde?«
»Das, was man auf den Fluren so aufschnappt. Er behauptet, Knochenfunde gemacht zu haben, die unser Bild von der präkolumbischen Vorgeschichte revolutionieren würden. Angeblich beweisen sie, dass es schon seit Hunderttausenden von Jahren Menschen auf dem amerikanischen Kontinent gibt. Aber das ist Unsinn. Wir wissen nämlich, dass der Mensch erst vor 30 000 Jahren aus Asien nach Nordamerika eingewandert ist, und erst vor etwa 10 000 Jahren nach Südamerika. In unserem Beruf müssen wir immer aufgeschlossen bleiben für neue Erkenntnisse, aber das ist doch ziemlich starker Tobak. Im Labor glaubt das niemand. Aus diesem Grund ist er wieder losgezogen. Wütend. Auf der Suche nach unwiderlegbaren Beweisen.«
Sie sprach mit leiser, kraftloser Stimme. Jeanne stellte sich eine
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