Im Wald der stummen Schreie
Zweifel mehr, Jeanne: Wir nähern uns einer bedeutenden Entdeckung im Bereich der Anthropologie! Durch Joachim. Durch das Volk im Wald der Manen!«
Um ihn wieder auf den Teppich zurückzuholen, berichtete Jeanne ihm von ihrem Telefonat mit Penélope Constanza. Die Einwände einer echten Expertin in Bezug auf die Funde von de Almeida.
»Das behauptet sie!«, erwiderte Féraud mit finsterem Gesicht. »Revolutionen sorgen immer für Unbehagen, vor allem in der Wissenschaft. Ein Paradigmenwechsel ...«
»Das hat nichts mit den Paradigmen zu tun. Der Wald der Seelen ist eine Lagune. In einem solchen Schlammloch können keine Fossilien entdeckt werden.«
»Aber es geht nicht um einen Fossilienfund! Genau das ist doch die Revolution. Der Schädel ist keine zwanzig Jahre alt! Das archaische Volk existiert noch immer!«
Jeanne versuchte abermals, seinen Überschwang zu dämpfen:
»All dies muss erst einmal bewiesen werden. Bei dem Schädel könnte es sich schlicht um irgendein verformtes Relikt handeln, das falsch interpretiert wird. Wir haben das von Nelly Barjac erstellte Karyogramm nicht gesehen. Nichts sagt uns, dass tatsächlich eine Abweichung von den dreiundzwanzig Chromosomenpaaren des modernen Menschen gegeben ist.«
»Und die Morde? Glauben Sie, dass man so viele Menschen für ein Hirngespinst umbringen würde?«
»Man tötet immer wegen Hirngespinsten. Sie verwechseln die Wirklichkeit mit den Überzeugungen des Mörders. Joachim glaubt vielleicht, ein Geheimnis zu schützen, das Geheimnis seines Volkes. Aber vieles spricht dafür, dass all dies gar nicht existiert.«
»Und sein Aufenthalt im Wald? Der Modus operandi der Morde? Die Feststellungen Ihres Jesuiten?«
»Indirekte Beweise. Nichts, was uns konkrete Aufschlüsse über die Wahrheit gäbe.«
»Sie reden wie ein Richter.«
Er verschränkte die Arme und schwieg schmollend.
»Féraud«, fuhr sie in versöhnlicherem Ton fort – sie nannte ihn bei seinem Familiennamen, weil sie seinen Vornamen verabscheute –, »die Erde wurde bis in die kleinsten Winkel hinein erkundet, erforscht, inventarisiert. Es ist unmöglich, dass sich irgendwo tief im Dschungel noch ein bislang unentdecktes Volk versteckt. Und erst recht kein prähistorisches. Ich bin mir sicher, dass es eine andere Erklärung dafür gibt.«
»Jedenfalls«, stieß der Psychiater zwischen den Zähnen hervor, »befindet sich der Schlüssel zur Lösung des Rätsels in diesem Wald.«
»Da sind wir uns einig.«
Er legte das Besteck ab und hob erneut die Hände.
»Und nun? Fahren wir hin?«
Jeanne lächelte. Sie stellten sich die Frage zum ersten Mal laut. In den Wald der Manen eintauchen. Sich in die Höhle des Löwen wagen.
»Ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig«, sagte sie, um das Ausmaß der Entscheidung herunterzuspielen. »Aber zuerst müssen wir nach Tucumán, um Daniel Taïeb zu befragen, den Direktor der Abteilung für paläontologische Grabungen am Institut für Agrarwissenschaft. Laut Penélope Constanza ist er derjenige, der Jorge de Almeida am besten kannte, zumindest seine Forschungen.«
»Ist es weit dorthin?«
»Tausend Kilometer nordwestlich von hier.«
»Fliegen wir?«
Jeanne lächelte ein weiteres Mal.
»Ich habe heute Abend die Flüge gebucht.«
71
Montag, 16. Juni, Flug Nr. 1712 Aerolinas Argentinas.
Sie waren um sechs Uhr früh gestartet, als es noch stockfinster war.
Sie landeten bei Tagesanbruch.
Durch das Seitenfenster blickend, entdeckte Jeanne die wahre Natur Argentiniens. Eine Landfläche, unermesslich wie das Meer. So weit das Auge reichte. Der Horizont war hier eine Asymptote, die sich zum Himmel aufspannte. In diesem Land sagte man, dass die Straßen nur in eine Richtung verliefen: nach unten. Mit dem Horizont.
Zwischen den Wolken hindurch betrachtete Jeanne die Felder, die Weiden, die Wälder. Im Licht des anbrechenden Tages leuchtete alles in grellen Farben. Die Flüsse schimmerten purpurn, die Ebenen smaragden. Und die darüber aufragenden Sierras stachen mit ihren schneebedeckten Gipfeln in den glasigen Himmel hinein. Der Gegensatz zwischen Eis und Fruchtbarkeit weckte in Jeanne eine Erinnerung. Die Provinz Tucumán wurde auch »der Garten Eden Argentiniens« genannt. Nach Tausenden Kilometern staubiger Dürre gelangte man zur größten Agrarregion, die einen Großteil der Bevölkerung des Landes ernährte.
Landung. Auf dem Rollfeld war das Gefühl der Grenzenlosigkeit noch stärker. Die Landschaft öffnete sich nach allen
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