Im Wald der stummen Schreie
»ist Palin also gekommen, um die Geburten in Campo Alegre zu zählen. Da geschah etwas Unerwartetes: Der Admiral wollte selbst ein Kind adoptieren.«
Der Offizier stieß einen bewundernden Pfiff aus.
»Wirklich gut informiert, compañera ...«
»Das Kind war neun Jahre alt. Es hieß Joachim. Es war von einem Unteroffizier des Stützpunktes namens Hugo García adoptiert worden. Ein Alkoholiker, der schließlich seine Frau umbrachte, bevor er Selbstmord beging. Joachim flüchtete in den Wald. Drei Jahre vergingen, bis ein belgischer Jesuit namens Pierre Roberge ihn in seine Obhut nahm. Im März 1982 ist Roberge mit dem Kind nach Guatemala geflohen, statt es Palin zu übergeben. Schließlich hat er sich wieder mit Ihnen in Verbindung gesetzt und Palin das Kind anvertraut, bevor er Selbstmord beging.«
Pellegrini brach in schallendes Gelächter aus.
»Dem ist nichts hinzuzufügen!«
»Beantworten Sie mir nur diese eine Frage: Warum wollte Alfonso Palin Joachim adoptieren, obwohl das Kind Symptome einer autistischen Erkrankung und mörderische Impulse zeigte?«
El Puma wiegte nachdenklich den Kopf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als könne er sich noch immer nicht über diese schöne Ironie des Schicksals beruhigen ...
»Es gab einen Grund. Einen sehr guten Grund. Joachim war sein Sohn, sein leiblicher Sohn .«
»Was?«
»Wenn Sie die Daten vergleichen, werden Sie feststellen, dass etwas mit der Chronologie nicht stimmen kann. 1982 war Joachim neun. Er wurde also 1973 geboren. Drei Jahre vor dem Beginn der Diktatur. Tatsächlich gehörte er nicht zu den Kindern, die von 1976 an ihren leiblichen Eltern weggenommen wurden. Seine Mutter machte uns schon Scherereien, bevor wir die Macht übernahmen.«
»Wer war seine Mutter?«
»Eine Sekretärin der ESMA, der Technikschule der Marine. Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen. Es kam heraus, dass sie eine Linksradikale war. Sie hat uns ausspioniert. Wir haben sie nach Campo Alegre geschickt und zum Sprechen gebracht.«
»Und was hat das mit Alfonso Palin zu tun?«
»Sie war seine Privatsekretärin an der ESMA. Die beiden hatten was miteinander. Das Mädchen sollte ihm wohl im Bett die Würmer aus der Nase ziehen. Oder es war eine echte Affäre, ich weiß es nicht ... Kurz und gut, als Palin unsere vertrauliche Liste der Geburten sah, auf der die Namen der weiblichen Gefangenen standen, hat er ihren Namen entdeckt. Er wusste nicht, dass sie schwanger war. Er hat gerechnet und kam zu dem Schluss, dass er der Vater des Jungen sein musste.«
»Er hätte auch von einem anderen Liebhaber sein können. Einem Linksradikalen. Einem Montonero .«
»Das hab ich Palin auch gesagt, aber er ließ sich nicht beirren. Und er sollte Recht behalten.«
»In welchem Sinne?«
»Als der Junge heranwuchs, wurde er ihm immer ähnlicher.«
»Äußerlich?«
»Ja, äußerlich, aber auch charakterlich. Der gleiche blutrünstige Schlächter, nur jünger und noch grausamer ...«
Jeanne betrachtete Féraud. Diese unglaubliche Tatsache erklärte zugleich den Beginn und das Ende der Geschichte. Die Entschlossenheit Palins, Joachim zu sich zu holen. Die Tatsache, dass er ihn in der Praxis des Psychiaters als seinen Sohn ausgegeben hatte.
»Was ist dann passiert? Ich meine, nach Guatemala?«
»Das weiß ich nicht genau. Palin hat Joachim in Atitlán abgeholt. Der Jesuit hatte die Nerven verloren und Selbstmord begangen. Ich habe keinen der drei je wiedergesehen. Nach dem Falkland-Krieg war Palin spurlos verschwunden.«
Pellegrini blickte auf seine Uhr. Er stemmte die Arme in die Hüften und musterte seine beiden Gesprächspartner mit gerunzelter Stirn.
»Ich finde Ihre Fragen allmählich sehr seltsam.«
Jeanne hatte ihre Antwort schon parat:
»In unserem Buch stellt Joachim, der Sohn von Palin, einen eigenen juristischen Fall dar.«
»Wieso?«
»Weil er selbst zu einem Mörder geworden ist. In Frankreich.«
El Puma nahm diese Neuigkeit ohne sichtbare Regung auf. Er griff nach einer Schnapsflasche, die auf dem Tisch stand, und schenkte sich einen kräftigen Schluck ein. Jeanne hatte den Eindruck, als würde jemand Benzin in ein offenes Feuer gießen.
»Mistkinder!«, brummte er, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hatte. »Wir hätten sie alle umbringen sollen.«
69
»SEÑORA CONSTANZA? Me llamo Jeanne Korowa.«
Nach der Rückkehr ins Hotel hatte Jeanne Féraud gesagt, sie wolle Siesta halten, um sich von der Aufregung zu erholen. Sie hatte sich in ihr Zimmer
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