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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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schmal.«
    »Und sein psychiatrisches Profil? Ist er ein Autist oder nicht?«
    »Nein, nicht im traditionellen Sinne des Wortes.«
    »Aber als der Vater und der Sohn Sie in Ihrer Praxis aufsuchten, haben Sie doch selbst ein autistisches Syndrom diagnostiziert.«
    Antoine Féraud schüttelte den Kopf.
    21.00 Uhr.
    Das Restaurant war grell erleuchtet. Das gleißend weiße Deckenlicht verlieh allen Gegenständen eine geradezu aggressive Klarheit. Die Steaks auf den Tellern bluteten. Die von Kälte geröteten Gesichter leuchteten. Die Bestecke auf den Tischdecken funkelten. Und wie angespornt von dieser blendenden Helligkeit erfüllte ein tosendes Stimmengewirr den Raum. Die Atmosphäre einer Pariser Brasserie zur Stoßzeit, noch gesteigert durch südamerikanischen Überschwang.
    »Ich habe mich geirrt. Das war mir schon früher klar. Eine solche Persönlichkeitsspaltung ist unmöglich. Eine autistische Persönlichkeit neben einer zweiten Persönlichkeit, die sozusagen normal strukturiert wäre – so etwas kann es nicht geben.«
    Ein Ober erschien und nahm die Bestellung auf. Jeanne warf einen Blick auf die in Kunststoff eingeschweißte Karte – in dem grellen Licht wirkte sie wie ölverschmiert.
    »Ein Salat Caprese.«
    »Für mich ebenfalls.«
    Zweimal Tomatensalat mit Mozzarella und Basilikum, mitten im Winter in Buenos Aires: Sie hatten wirklich einen eigenartigen Geschmack. Ihre einzige Entschuldigung bestand darin, dass sie ein italienisches Restaurant ausgesucht hatten – die Pizzeria Piegari, die versteckt unter einer Autobahnbrücke lag und nur zweihundert Meter vom Hotel entfernt war.
    »Meiner Meinung nach«, fuhr der Psychiater fort, »leidet Joachim an einer Schizophrenie. In seinem Fall ist es mehr als eine Spaltung. Als Erwachsener trägt er tatsächlich noch eine andere Psyche in sich. Eine Persönlichkeit, die möglicherweise am Asperger-Syndrom leidet.«
    »Was ist das?«
    »Hans Asperger ist, neben Leo Kanner, einer der Entdecker des Autismus. Nach ihm ist ein spezifisches autistisches Krankheitsbild benannt, das er als Erster beschrieben hat. Eine ›tiefgreifende Entwicklungsstörung‹, allerdings auf einem ›hochfunktionalen‹ Niveau. Erkrankte Kinder leiden nicht an kognitiven Defiziten und können sich auch sprachlich normal ausdrücken.«
    »Das ist bei Joachim nicht der Fall.«
    »Die ›zivilisierte‹ Hälfte seiner Persönlichkeit beherrscht die Sprache perfekt. Joachim spricht Französisch, Spanisch und Englisch. Seine ›primitive‹ Hälfte experimentiert mit der Sprache und gebraucht sie in ähnlicher Weise wie ein Autist.«
    »Das Asperger-Syndrom ist also eine autistische Erkrankung?«
    Féraud hob die Hände.
    »Die Fachleute sind sich da nicht einig. Aber das ist in diesem Fall nebensächlich. Die entscheidende Frage lautet: Woher kommt diese Störung? Wurde er damit geboren? Oder ist sie die Folge extrem traumatischer Erlebnisse?«
    »Sie meinen unter den Waldmenschen?«
    »Oder auch schon davor: das Trauma des Blutbades in der Familie.«
    Die Salatteller mit Caprese wurden aufgetragen. Aber keiner von beiden schenkte ihnen Beachtung.
    »Ich glaube, dass sich dies in zwei Etappen ereignet hat«, fuhr der Psychiater fort. »Die panische Angst, die durch das Blutbad in Campo Alegre ausgelöst wurde, hat zunächst in Joachim sämtliche Spuren seiner bisherigen Erziehung ausgelöscht. Sein Gehirn wurde wieder zu einem unbeschriebenen Blatt. Anschließend hat die Unterweisung bei dem archaischen Volk dieses leere Blatt neu beschrieben.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass sein Verhalten, wie immer man es nun etikettieren will, den Stempel des Volks der Lagune trägt?«
    »Ganz genau. Es handelt sich nicht um Autismus. Das Böse kommt von anderswoher. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob es wirklich ›das Böse‹ ist oder bloß das Ergebnis einer bestimmten Erziehung? Das Wolfskind ist unter primitiven Menschen aufgewachsen. Es ist zu einem Träger, einem Konzentrat dieser Kultur aus den Anfängen der Menschheit geworden. Erinnern Sie sich an sein Ritual. An die Wahl seiner Opfer: Frauen mit dem Körper archaischer Fruchtbarkeitsgöttinnen. Die Zeichen an den Wänden. Darin ist er einzigartig. Aus diesem Grund muss ich ihn befragen.«
    Férauds Gedankengang überraschte Jeanne.
    »Sie hoffen also, ihn lebend einzufangen?«
    »Selbstverständlich, ich muss ihn behandeln.«
    »Sie wollen sagen: ihn erforschen.«
    »Ich muss ihn studieren, um ihn behandeln zu können. Es gibt keinen

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