Im Wald der stummen Schreie
ältere Dame in einer Safarijacke vor. Gewiss ging sie völlig in der Landschaft aus Felsen und Kakteen auf, in der sie sich gerade aufhielt. Eine mineralische, ausgedörrte, erodierte Welt, wo es nur Fossilien und dornige Pflanzen gab.
»Sagt Ihnen der Name Francesca Tercia etwas?«
»Nein, wer ist das?«
Jeanne antwortete nicht. Sie war es, die hier fragte.
»Wann ist de Almeida aufgebrochen?«
»Vor zwei Monaten. In meinem Beruf ist das nichts.«
»Aber die Leute am Institut sind besorgt.«
»Nein, nicht wirklich ...« Penélope schien zu begreifen, dass sie einem regelrechten Verhör unterzogen wurde. »Ich habe nicht genau verstanden, welche Rolle Sie in dieser ganzen Sache spielen. Sind Sie Richterin in Frankreich?«
»Ja. Das Verschwinden von Jorge de Almeida hängt mit einem Fall zusammen, an dem ich in Paris arbeite.«
»Paris ...«, wiederholte die Wissenschaftlerin verträumt.
Mit kräftigerer Stimme sagte sie:
»Ich rate Ihnen, sich mit Daniel Taïeb in Verbindung zu setzen, unserem Chef. Er beaufsichtigt Jorges Forschungen.«
»Haben Sie seine Handynummer?«
Ohne zu zögern gab ihr Penélope die Nummer. Endlich hatte Jeanne die Privatnummer von Taïeb, dem Phantom. Sie bedankte sich herzlich bei ihrer Gesprächspartnerin und legte auf. Gleich im Anschluss versuchte sie den Anthropologen zu erreichen, doch es meldete sich nur die Mailbox. Sie hinterließ keine Nachricht.
17.00 Uhr. Plötzlich spürte sie, wie die Erschöpfung der letzten Tage mit bleierner Schwere über sie hereinbrach. Sollte sie auch ein Nickerchen halten? Nein. Sie durfte keine Zeit verlieren. Sie musste weiter vorankommen. Mangels Alternative beschloss sie, Ordnung in ihre Ermittlungen zu bringen.
Aber zunächst zählte sie die Pesos, die sie am Flughafen gewechselt hatte. Kein Vermögen, doch die Lebenshaltungskosten waren in Argentinien sehr niedrig. Im Übrigen hatte sie ihre Bank angewiesen, den Rest ihrer Ersparnisse auf ihr Girokonto zu überweisen. Weitere Ausgaben zeichneten sich ab. Womöglich würden ihre Nachforschungen schlichtweg aus Geldmangel zum Erliegen kommen.
Jeanne öffnete ihre Mailbox – alle Zimmer waren mit dem WiFi-System ausgestattet – und fand eine Nachricht von Reischenbach vor. Sie klickte auf das angehängte Dokument. Das Foto von Jorge de Almeida. Ein hübscher, heiterer Renaissance-Engel mit einem Lockenkopf. Jeanne kannte dieses Gesicht. Sie kramte in ihren Unterlagen und fand das Gruppenfoto, das sie bei Francesca Tercia hatte mitgehen lassen. Die Studenten der Paläontologie an der Universität von Buenos Aires, Jahrgang 1998. Jorge de Almeida war der Spaßvogel, der seinen Kopf auf dem Foto eingekreist und darüber geschrieben hatte: »Te quiero!«
Alles passte also zusammen. Um zu beweisen, dass seine Interpretation seiner Funde zutreffend war, hatte de Almeida seiner Jugendliebe Francesca Tercia den Abguss des Schädels zugeschickt, den er im Wald der Manen gefunden hatte. Die von Francesca angefertigte Skulptur würde wie eine Bombe einschlagen. So also sah der Frühmensch aus, der vor 300 000 Jahren nach Argentinien eingewandert war und noch immer dort lebte! Und Jorge de Almeida würde zu einem Star der Paläoanthropologie werden.
Allerdings hatte er nicht mit der Wachsamkeit des Wolfskindes gerechnet. Aber die Frage blieb: Wie hatte Joachim von diesem Geheimprojekt erfahren? Kannte er Francesca? Hatte sie ihm von dem Projekt erzählt?
Jeanne machte sich weitere Notizen. Zum Schluss kopierte sie die Datei auf einen USB-Stick, den sie in die Tasche steckte.
18.00 Uhr.
Der Gedanke, eine Siesta zu halten, kehrte mit Nachdruck zurück. Gliederschmerzen. Bleierne Lider. Jeanne stand auf und überprüfte ihre Tür. Sie war verschlossen. Sie zog die Vorhänge zu. Legte sich hin. Merkwürdigerweise fühlte sie sich hier geborgen. Nicht etwa wegen Féraud, der in dieser ganzen Sache keine große Rolle spielte, sondern eher wegen Buenos Aires, dieser gewaltigen Stadt.
Ja, der Lärm, die Kraft und die Menschenmassen der Metropole beschützten sie ...
Mit diesem sicheren, wohligen Gefühl schlief sie ein.
70
»Erzählen Sie mir von Joachim.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was für ein Typ ist er, ich meine äußerlich?«
»Nicht sonderlich groß, schmal, dunkelhaarig, ein südländischer Typ.«
»Sein Gesicht?«
»Er gleicht seinem Vater.« Féraud drückte sich Daumen und Zeigefinger in die Wangen. »Ein eingefallenes Gesicht. Unter den Backenknochen sehr
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