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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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derartige Gerüchte kursierten. Im Übrigen wirkte der Zorn Pellegrinis etwas aufgesetzt.
    »Zu den Persönlichkeiten, auf die wir in unserem Buch eingehen wollen«, fuhr sie in ruhigem Ton fort, »gehört auch Admiral Alfonso Palin ...«
    El Puma machte sich über sein Steak her. Energisch zerschnitt er das noch blutige Fleisch.
    »Da wünsche ich Ihnen viel Glück«, meinte er und verschlang ein Stück. »Seit mindestens zwanzig Jahren hat ihn niemand mehr gesehen.«
    »Haben Sie ihn gekannt?«
    »Natürlich. Ein wahrer Patriot. Er bekleidete einen hohen Posten im argentinischen Armee-Geheimdienst. Ein Eckpfeiler im Kampf gegen die Subversion.«
    »Was können Sie uns über ihn sagen? Ich meine auf persönlicher Ebene?«
    Pellegrini kaute das Fleisch mit kräftigen Bewegungen. Dieser Vorgang schien einen Großteil seiner Gehirnkapazität in Anspruch zu nehmen. Aber ein anderes Areal überlegte. Offenbar suchte er nach den passenden Worten, um Admiral Palin zu beschreiben.
    »Er hatte einen Fehler«, antwortete er, nachdem er einen Schluck Wein getrunken hatte. »Er war ein Frömmler, der dauernd in die Kirche rannte und katholischen Kreisen sehr nahestand.«
    »Wie vertrugen sich diese Überzeugungen mit seinen militärischen Operationen?«
    »Was glauben Sie? An Palins Händen klebte Blut. Viel Blut. Und damit musste er klarkommen ... Auch wenn die katholische Kirche damals die Ausmerzung subversiver Elemente guthieß.«
    Der Oberst hatte den Mund schon wieder voll. Rindfleisch. Wein. Brennstoff für einen Heizungskessel.
    »Ich erinnere mich an eine Geschichte«, fuhr Pellegrini fort. »Zu Beginn der Diktatur, im Jahr 1976, hat Palin an den ersten vuelos teilgenommen. Sie wissen, was das ist, oder?«
    Jeanne antwortete nicht, sprachlos darüber, wie freimütig der Offizier über die Gewalttaten der Vergangenheit sprach.
    »Wissen Sie es, oder wissen Sie es nicht?«
    »Ja, ich weiß es, aber ...«
    »Aber was? Das ist doch längst verjährt, oder? Vergessen Sie nie, dass damals Krieg herrschte. Unser Land war verpestet. Wir haben Argentinien vor dem Untergang gerettet. Wenn wir nicht all diese Linksextremen ausgeschaltet hätten ...« Er sprach das spanische Wort izquierdistas voller Ekel aus. »... hätten sie später wieder von vorn angefangen.«
    El Puma riss ein Stück Fleisch aus dem Steak heraus. Hinter ihm kamen und gingen die Gäste – in karierten Hosen, grellbunten Polohemden, mehrfarbigen Markenkleidern –, eine echte Zirkusparade.
    »Jedenfalls brauchen wir keine Belehrungen.« Er richtete seine Gabel auf Jeanne. »Ihr Franzosen habt doch das alles erfunden. Den Guerillakrieg. Die Folter. Die Todesschwadronen. Selbst das Abwerfen von Menschen über dem Meer! All das wurde in Algerien entwickelt. Für alles hat Oberst Trinquier in seinem Werk La Guerre moderne die theoretischen Grundlagen erarbeitet. Wir haben nur diesem Vorbild nachgeeifert. Franzosen haben uns ausgebildet. Die halbe OAS hatte sich in Buenos Aires niedergelassen. General Aussaresses hatte ein Büro in der französischen Botschaft. Es waren eben andere Zeiten!«
    Jeanne nahm sich eine weitere empanada . Aus reiner Höflichkeit.
    »Jedenfalls«, fuhr Pellegrini fort, »muss man uns eines zugestehen: Effizienz. Innerhalb von drei Jahren war die Sache erledigt. Der Feind war vernichtet. Anschließend mussten wir die kleinen Probleme bereinigen.«
    »Etwa die Operation Condor?«
    Pellegrini zuckte gleichgültig mit den Schultern.
    »Wir wollen doch nicht all die alten Geschichten wieder hervorkramen.«
    Jeanne gab sich respektlos.
    »Die Militärs haben Argentinien auch in den Untergang geführt.«
    Pellegrini schlug mit seinem Besteck auf den Tisch.
    »Das einzige Fiasko war der Falkland-Krieg! Eine bescheuerte Idee eines bescheuerten Generals! Scheiß-Engländer! Als sie im 19. Jahrhundert Buenos Aires belagerten, schütteten ihnen unsere Frauen siedend heißes Öl in die Fresse. Das waren noch Zeiten!« Der Offizier richtete seine Gabel auf Féraud. »Isst er nichts?«
    »Er hat schon zu Mittag gegessen. Sie haben davon gesprochen, dass Admiral Palin etwas Schlimmes erlebt hat ...«
    »Ja. Als Palin noch einfacher Marineoffizier war, kam es auf einem der ersten vuelos zu einem Zwischenfall. Im Flugzeug betäubte ein Arzt die Gefangenen. Sobald sie das Bewusstsein verloren hatten, wurden sie entkleidet. Ich habe bei diesen Operationen mitgemacht: Die zu einem Haufen gestapelten nackten Körper waren kein schöner Anblick. Unwillkürlich

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