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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Richtungen hin. Wo immer man hinblickte, verlor man sich bei dem Versuch, in dieser sich unendlich hinziehenden, gleichförmigen Fläche irgendeinen Anhaltspunkt auszumachen. Jeanne überkam ein seltsames Gefühl. Eine Art horizontaler ... Schwindel.
    Der Flugplatz war das genaue Gegenteil. Alles im Taschenformat. Der Raum für die Gepäckausgabe glich einer Diele. Die Empfangshalle einem Wohnzimmer. Der Ausgang einem Flur. Féraud beobachtete die anderen Reisenden. Ihre Gewöhnlichkeit schien ihn zu enttäuschen. Ingenieure. Kaufleute. Studenten ...
    »Was haben Sie erwartet?«, fragte Jeanne. »Eingeborene mit Federn in den Nasenlöchern?«
    »Ich bin nicht so erfahren wie Sie«, erwiderte er verärgert.
    Ihr Gepäck tauchte auf dem Laufband auf. Jeanne nahm es herunter, bevor Féraud es auch nur erspäht hatte.
    »So erfahren bin ich auch nicht, aber ich kenne Argentinien. Ein Land, das große Träume, ein großes Herz und Schulden bis über beide Ohren hat. Keine Exotik in Sicht. Die Argentinier sind Menschen wie Sie und ich, die meisten haben europäische Vorfahren, und sie leben zerstreut in einem dünn besiedelten Land, das fünfmal so groß ist wie Frankreich. Wissen Sie, was sie über sich selbst sagen? ›In Lateinamerika stammen alle Menschen von den Ureinwohnern ab. In Argentinien stammen alle von Einwanderern ab.‹«
    Draußen erstrahlte die Morgenröte in der Farbe eines Granatapfels. Alles schien förmlich zu glühen. Dabei betrug die Temperatur nur wenige Grad über null, und der Geruch von feuchter, kühler Erde erfüllte die Luft. Die Tonerde der Landschaft harrte noch der formenden Hände ...
    Jeanne fühlte sich wie berauscht. Sie lachte:
    »Ist das nicht verrückt?«
    Féraud schwieg. Gedankenversunken, mit eingezogenem Kopf ging er dahin. Immerhin trug er Jeannes Tasche. Sie hätte ihn am liebsten geküsst. Dass sie hier war, mit ihm, auf den Spuren eines kannibalistischen Mörders und eines Volks von Affenmenschen – obwohl sie ihn noch nicht einmal zwei Wochen kannte –, weckte in ihr romantische Gefühle.
    Sie stiegen in ein Taxi ein. Jeanne bat den Chauffeur, ins Stadtzentrum zu fahren. Zuerst einmal ein Hotel auftreiben, um das Gepäck abzustellen und zu duschen. Aber es gelang ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren. Die Landschaft riss sie aus ihren Gedanken heraus. Trotz der Kälte öffnete sie die Fensterscheibe. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, ihre Augen waren schier erschöpft vom Anblick der unendlichen Weite der Landschaft, ihre Haut schimmerte golden im Licht der aufgehenden Sonne ...
    Sie beschloss, den Chauffeur zu fragen:
    »Dónde se encuentra un buen hotel?«
    Ohne sich umzudrehen, empfahl der Mann das Catalinas Park. Er spreizte die Finger einer Hand, um anzudeuten, dass es ein Fünf-Sterne-Hotel sei.
    »Fünf Sterne?«, murmelte Féraud. »Das wird uns ein Vermögen kosten!«
    Definitiv ein Geizkragen ...
    »Nur keine Sorge. Die Sterne fallen in Argentinien leicht vom Himmel.«
    Jeanne hatte Recht. Das Catalinas Park, das gegenüber dem Parque 9 de Julio lag, war ein zweitklassiges Hotel. Ein Gebäude im Stil der siebziger Jahre, mit abgerundeten Ecken und einem merkwürdigen Vordach, das wie eine Plastikwanne über den Glastüren hing.
    Das Innere war dementsprechend. Endlose Flure. Kleine weiße Türen. Vergoldete Nummern, die wie Lutschstangen glänzten.
    Jeanne hatte die Nummer 432. Als sie die Deckenlampe einschaltete, erblickte sie eine recht schlichte Bude mit sandfarbenen Wänden. Die Vorhänge, die Laken und der Teppichboden waren im gleichen Farbton gehalten.
    Sie lächelte zärtlich. Die Klimaanlage veranstaltete einen Höllenlärm. Die Glühbirnen leuchteten matt. Im Bad warteten bestimmt Kakerlaken auf sie. Ein echtes Tropen-Hotel. Der Äquator war nicht mehr fern ...
    Jeanne stellte sich unter die Dusche. Ihr Körper war noch von Seifenschaum überzogen, als das Wasser plötzlich versiegte. Fluchend verließ sie die Kabine, schlang ein durchlöchertes Handtuch um sich, betrachtete sich eine Sekunde im Spiegel – ihr rotes Haar, ihre Sommersprossen an den Schultern. Wieder fand sie sich ganz hübsch ... wirklich nicht unattraktiv ... Sie fasste wieder Selbstvertrauen.
    Sie streifte sich Boxershorts, ein T-Shirt und eine Jeans über. Nicht vergessen, einen Pullover zu kaufen . Aber zuerst einmal frühstücken. Anschließend mussten sie zum Institut für Agrarwissenschaft fahren und Daniel Taïeb auftreiben, den geheimnisvollen Anthropologen.
    Ein Phantom in

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