Im Wald der stummen Schreie
weil man sich nicht ausreichend um sie gekümmert habe. Das glaubte zumindest ihre Mutter. Es war also die Schuld ihres »Herzchens«, Jeannes. Ihres Lieblings. Jeanne war behütet und beschützt worden, während ihre Schwester verstümmelt worden war ...
43, 44, 45 ...
Mehr noch als die Ermordung Maries hatten diese Worte Jeannes Berufswahl bestimmt. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte eine moralische Verpflichtung. Gegenüber Marie. Gegenüber allen weiblichen Opfern von Verbrechen. Vergewaltigten Frauen. Geschlagenen Ehefrauen. Unbekannten Mordopfern. Sie würde Ermittlungsrichterin werden. Sie würde die Mistkerle finden und im Namen des Gesetzes Rache nehmen. 53, 54, 55 ...
Mit diesem Plan im Kopf hatte sie das Abitur gemacht. Mit dieser Obsession hatte sie ihren Master in Rechtswissenschaften erworben. Mit diesem festen Vorsatz hatte sie ein Vorbereitungsjahr am Institut d'études judiciaires verbracht, ehe sie die Nationale Hochschule für das Richteramt besucht hatte. Nach ihrem Studium war sie für ein Jahr nach Lateinamerika gegangen, um sich von diesem Druck zu befreien, aber das hatte nicht funktioniert. Sie war nach Frankreich zurückgekehrt. Sie hatte zwei Jahre in Limoges verbracht und drei in Lille, ehe sie in Nanterre gelandet war.
Zurück in der Île-de-France hatte sie die Ermittlungsakte zum Mord an ihrer Schwester ausgegraben – alles war in Courbevoie geschehen, dem Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Nanterre. Sie hatte die Registratur aufgesucht, wo die Archivunterlagen der Staatsanwaltschaft aufbewahrt werden.
Sie hatte die Akte gelesen, wiedergelesen, studiert. Aber der Groschen war nicht gefallen. Naiverweise glaubte sie, ihre kurze Erfahrung als Ermittlungsrichterin würde ihr helfen, die Hintergründe zu verstehen. Ein Indiz zu erkennen. Aber nein. Nicht der leiseste Hinweis. Und der Mörder war nie wieder aufgetaucht.
Der einzige Punkt, der ihr aufgefallen war, war die Bemerkung eines Journalisten des Magazins Actuel. Ein in die Akte hineingeschobener Zeitungsausschnitt vom Oktober 1981. Dem Mann waren Ähnlichkeiten zwischen der Inszenierung des Mörders und den »Puppen« des Künstlers Hans Bellmer aufgefallen. Das gleiche »verkehrte« Ansetzen der Gliedmaßen am Torso. Die gleiche blonde Perücke. Die gleichen weißen Söckchen und schwarzen Schuhe. Der gleiche Reifen ...
Jeanne hatte sich informiert. Bellmer war ein deutscher Maler und Bildhauer des 20. Jahrhunderts, der sich der Fotografie zugewandt hatte. Als sie zum ersten Mal seine menschengroßen Puppen gesehen hatte, war sie schockiert. Genau so hatte der Körper ihrer verstümmelten Schwester ausgesehen. Sie hatte mehrere Reisen unternommen. Museum of Modern Art in New York. Tate Gallery in London. Museen in Deutschland. Sie hatte das Centre Pompidou durchmessen. Sie hatte die Skulpturen, die Radierungen und die Zeichnungen betrachtet. Sie hatte geweint. Sie hatte sich vorgestellt, auf den Spuren eines Mörders zu wandeln. Eines Psychopathen, der sich in jedem der Museen von diesen dämonischen Objekten inspirieren ließ. Jemand, der gleichsam von den wahnsinnigen Phantasmen eines anderen besessen und geradezu getrieben war, diese mit menschlichen Körpern umzusetzen.
Sie hatte Orte besucht, an denen der Künstler gelebt hatte. In Deutschland. In Frankreich – in Paris und in der Provence. Sie hatte sich an die nächstgelegenen Dienststellen der Polizei oder Gendarmerie gewandt. Sie suchte nach einer Spur von dem Mörder. Nach einem Detail, einem Indiz. Vergeblich!
Sie hatte sich schließlich damit abgefunden. Sie würde immer das kleine Mädchen bleiben, das, die Hände vorm Gesicht, flüsternd zählte. Dabei brannte sie darauf, der Wahrheit des Geschehens im Wald auf den Grund zu kommen. Nicht um ihre Schwester oder deren Mörder zu finden, sondern eine Erklärung . Eines Tages würde sie den Ursprung des Übels entdecken ...
67, 68, 69 ...
Jeanne schrak auf. Jemand hatte an die Scheibe geklopft. Sie sah sich um. Sie war mit dem Navigationssystem bis zum Gerichtsgebäude in der Avenue Joliot-Curie gefahren. Unwillkürlich hatte sie vor dem Gebäude angehalten.
Der Kopf eines Polizisten tauchte hinter der Scheibe auf.
»Sie können hier nicht stehen bleiben, Madame. Das ist ... Oh, Entschuldigung ... ich habe Sie nicht erkannt, Frau Richterin.«
»Ich ... Ich fahre in die Tiefgarage.«
Jeanne legte den ersten Gang ein und lenkte den Wagen in die Einfahrt zum Untergeschoss. Sie warf einen kurzen Blick
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