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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Bermejo bis nach Paraguay hinauf.«
    »Ein Schubleichter, ausgezeichnet.«
    »Warten Sie, bis Sie ihn sehen.«
    »Könnte man uns in dem Wald absetzen?«
    Beto lachte laut auf.
    »Der Schleppkahn hält nicht an! Wir sprechen hier von Tausenden von Hektar überschwemmtem Land. Ein Labyrinth von Sümpfen und yungas. Vollkommen menschenleer.«
    »Yungas?«
    »Subtropische Wälder. Die meisten sind überflutet. Kaimane, Piranhas und Treibsand. Selbst die Forsthüter wagen sich nicht in diese Region. Eine wahre Hölle. Diese Landschaft verändert unentwegt ihre Gestalt, verstehen Sie?«
    »Nein.«
    »Schwimmende Inseln, die mehr oder minder miteinander verbunden sind, sogenannte embalsados . Sie wählen einen bestimmten Weg und orientieren sich an diesem oder jenem Zeichen. Wenn Sie wiederkommen, hat sich alles verändert. Die Bäume, die Böden, die Wasserläufe befinden sich nicht mehr am selben Ort.«
    Jeanne betrachtete die grüne Zone auf der Karte. Ein Labyrinth aus Wasser, Tieren und Pflanzen, dessen räumliche Struktur sich ständig wandelte. Vielleicht war dies das Geheimnis, dem die Ureinwohner des Waldes der Manen ihr Überleben verdankten ...
    »Hier stehen Namen. Sind das Dörfer?«
    » Señora , wir sind in Argentinien. Sie sehen einen Namen auf einer Landkarte, aber meistens finden Sie an Ort und Stelle auch nicht mehr als das. Ein Schild, das im Schlamm steckt. Oder Reste von einem Zaun.«
    »Und Campo Alegre?«
    »Dort stehen noch ein paar Holzhütten, ja. Aber der Name ist vor allem bekannt wegen einer Militärbasis, die in den neunziger Jahren geschlossen wurde. Weshalb wollen Sie dorthin fahren?«
    Jeanne, die nicht mit dieser Frage gerechnet hatte, antwortete, sie schreibe ein Buch über die letzten unberührten Gebiete der Erde.
    »Haben Sie audiovisuelle Aufnahmegeräte dabei?«
    »Nur einen Fotoapparat.«
    Beto wirkte skeptisch. Jeanne hatte den Blick noch immer auf die Karte geheftet. Der Name »Selva de las Almas« war vermerkt. Wieso hatte Joachim in der Hypnose-Sitzung – und vor ihm Roberge in seinem Tagebuch – diesen Ausdruck mit »Wald der Manen« übersetzt? »Seelen« und »Manen« bedeuteten nicht dasselbe ...
    »Es gibt Legenden«, antwortete Beto auf ihre Frage. »Zur Bezeichnung der Geister des Waldes werden mehrere Wörter benutzt – Almas (Seelen), Espíritus (Geister) und Fantasmas (Gespenster). Tatsächlich geht es noch um etwas anderes. ... Die Indios sagen über diesen Wald, er sei ›ungeboren‹. Es ist eine Welt vor der Ankunft des Menschen. Die ›ungeborenen‹ Geister bewegen sich auf den embalsados , weil sie selbst ›umherirrende Seelen‹ sind.«
    »Wie sollen diese Geister aussehen?«
    »Einige Indios behaupten, es seien Riesen. Andere sprechen von Zwergen. Es gibt eine modernere Version, wonach es sich um die Seelen der Lagerinsassen handeln soll, die das Militär aus Flugzeugen über der Lagune abgeworfen hat und die von den Kaimanen gefressen wurden.«
    Jeanne verstand jetzt, wieso Roberge all diese Anschauungen in dem Wort »Manen« zusammengefasst hatte. In der Antike gebrauchten die Römer dieses Wort für die Seelen der Menschen, die von ihren Körpern geschieden waren. Einmal im Jahr ehrte man ihr Andenken mit einem Fest. An diesem Tag verließen die Manen die Unterwelt durch einen Spalt, der eigens zu diesem Zweck in jedes Grab geschlagen wurde ...
    »Aber niemand hat sie je zu Gesicht bekommen?«
    » Señora , das sind Legenden ungebildeter Indios. Sie lieben solche Geschichten. Sie erzählen von Forsthütern, die auf mysteriöse Weise verschwunden sind. Von gestohlen Geräten ... Ich war an der Universität von Resistencia und nichts ...«
    Sie hörte den rationalistischen Ausführungen Betos nicht mehr zu. Mythen basieren auf sehr alten Tatsachen, die vom menschlichen Geist jedoch abgewandelt und ausgesponnen worden sind. Die Legenden von Campo Alegre waren vielleicht Spuren, Indizien, die darauf hindeuteten, dass das archaische Volk tatsächlich existierte. Ein Volk, das unter dem Joch von Eros und Thanatos, dem Sexual- und dem Todestrieb lebte – mit einer eindeutigen Präferenz für Thanatos, den Gott der Zerstörung.
    »Wie viel wollen Sie für die Fahrt?«
    »Señora« , gurrte er, »das ist keine Frage des Geldes.«
    Der Satz bedeutete das genaue Gegenteil. Jeanne überlegte. Sie würde noch einmal das gleiche Spielchen wie in Tucumán machen müssen. Die Bank. Das Bargeld. Ihre Konten bis zum letzten Euro plündern. Ohne darüber

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